VISION 20003/1999
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Wachsende Bedrohung in unbarmherziger Zeit

Artikel drucken Der Krieg in Jugoslawien - ein Menetekel (Christof Gaspari)

Ein paar hundert Kilometer von uns entfernt tobt ein erbarmungsloser Krieg. Nach kurzem Erschrecken zu Beginn der Bombardements, einem Aufflackern des Mitgefühls mit dem Elend der Vertriebenen, dem Leid der Vergewaltigten und brutal Ermordeten, geht unsere Mediengesellschaft langsam zum Alltag über. Die Schlagzeilen wenden sich wieder anderen Themen zu...

Was soll man denn machen? Etwa in Resignation verfallen? Ist damit irgendjemandem geholfen? Nein! Aber wir sollten uns hüten, die Angelegenheit abzuhaken. Was in Jugoslawien geschieht, ist ein Menetekel: Gezählt, gewogen - und zu leicht befunden steht mit Feuerschrift auch heute an der Wand. Und wir sind gemeint. Ja, wir! Wie ich zu dieser Behauptung komme? Schließlich spiele sich ja all das Grauenhafte da unten, am Balkan, dem notorischen Krisenherd und nicht bei uns ab, wird man mir entgegenhalten.

Aber immerhin geschieht es hier in Europa, daß Hunderttausende aus ihren Häusern, die man vorsorglich niederbrennt, vertrieben werden, daß man Massenerschießungen durchführt, im großen Stil vergewaltigt, Kinder und alte Menschen furchtbar mißhandelt... All das spielt sich nicht mehr nur im fernen Kambodscha oder im "unterentwickelten" Ruanda ab, wo man sich eben noch nicht für die Segnungen der europäischen Kultur geöffnet habe, wie einige meinen. Nein, die Unmenschlichkeiten, die seit fast einem Jahrzehnt in Ex-Jugoslawien an der Tagesordnung stehen, geschehen im Herzen Europas. Ein unüberhörbares Alarmsignal!

Ja, aber bei uns wäre das undenkbar, höre ich als Einwand. Aber ist er stichhältig? Halten beispielsweise wir Österreicher besser zusammen als unsere südlichen Nachbarn? Gehen wir verantwortlungsvoller mit unseren Mitmenschen um? Fühlen wir uns mehr füreinander verantwortlich?

Ich wage das zu bezweifeln, ja behaupte sogar, daß in unserem Land ein ähnlicher Krieg tobt wie am Balkan - nur wird er mit einer "feineren" Klinge geführt: mit dem bei Abtreibungen eingesetzten Instrumentarium. Auch bei uns werden Jahr für Jahr zigtausende hilflose Kinder zerstückelt. Die Tatsache, daß es nicht vor laufender Kamera geschieht, vom Gesetz geduldet und von den Medien als Errungeschaft der Frauenemanzipation gefeiert wird, macht das Geschehen nicht humaner. Und auch bei uns wird mit atemberaubender Nüchternheit über die Euthanasie gesprochen, wird das erbarmungslose Töten der Alten und Leidenden ins Auge gefaßt. Ich weiß schon: Noch sind wir nicht so weit, noch vertreiben wir die Alten nicht aus ihrem bergenden Umfeld. Aber wir sind drauf und dran die Weichen in dieser Richtung zu stellen. Und Holland ist uns auf diesem Weg schon einige Schritte voraus.

Ich lasse es bei diesen zwei Analogien bewenden, will den Vergleich nicht überstrapazieren. Aber wiederholen will ich meine Behauptung doch: Was heute am Balkan geschieht, kann morgen schon bei uns stattfinden, weil es in Ansätzen schon heute zu unserem Alltag gehört.

Und darum ist die Frage auch für uns so brennend: Wie kommen wir aus dieser Bedrohung heraus, immer tiefer in der Unmenschlichkeit zu versinken?

Doch nur, indem wir uns aus der herrschenden Logik der gesellschaftlichen Entwicklung befreien, deren Grundprinzipien lauten: Verwirkliche dich selbst: Sorge primär für dein Wohl, die anderen tun dies auch; emanzipiere dich: Mach dich frei von allem, was deine Selbstverwirklichung behindert, was dich abhängig macht; setz dich durch: Sei der Erste, der Beste im Wettlauf um Lebenschancen, dem Tüchtigen gehört die Welt; sichere dich ab: Wer Macht und Einfluß hat, dem kann niemand etwas anhaben.

Diese Logik stellt also die Weichen in Richtung Emanzipation, Konkurrenz, Selbstverwirklichung, Machtzusammenballung, usw... Sie führt die Menschen nicht zusammen, sondern treibt sie auseinander, macht sie einander verdächtig, zur gegenseitigen Bedrohung, zum Gegenstand der Machtausübung.

Zugegeben, es sind nicht nur diese Grundsätze, die unser Handeln leiten. Unsere Gemeinschaft wird durch ein Netz von Solidaritäten und bejahten Abhängigkeiten zusammengehalten: durch funktionierende Ehen und Familien, vertrauenswürdige geschäftliche Beziehungen, nachbarschaftliche Verbundenheit, Freundschaften, selbstlosen Einsatz im Dienst von Benachteiligten und vieles andere mehr.

Aber all das lebt vom guten Willen unzähliger einzelner. Und dieser muß genährt werden. Denn das Zusammenleben der Menschen ist, wie jeder aus Erfahrung weiß, einerseits zwar sehr erfüllend, andererseits aber auch äußerst herausfordernd. Es verlangt ein fortgesetztes Eingehen auf den anderen, Ausräumen von Spannungen, Mittragen der Fehler, Bewältigen von Konflikten. Und vor allem: fortgesetztes Vergeben und sich Versöhnen, das systematisch kultiviert und geübt werden muß.

Am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends müssen wir nüchtern feststellen, daß diese Substanz in Europa stark ausgedünnt scheint und dringend der Erneuerung bedarf.

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