VISION 20003/1999
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Vergeben bringt Heilung des Menschen

Artikel drucken Verzeihen: Aufgabe des Menschen und Geschenk Gottes

Wie wird man zum "Spezialisten" für Vergebung?

P. Jean Monbourquette: Ich habe selbst mit dem Problem der Vergebung zu kämpfen gehabt, nachdem ich vor 15 Jahren eine schwere Kränkung erfahren hatte. Ein alter Familienzwist zerriß meine Familie zwei Generationen hindurch. Zuletzt gab es einen Verrat, der mich zutiefst verletzt hat. Drei Jahre lang habe ich gegen Verbitterung und Rachegefühle angekämpft. Es stellte sich mir die Frage: Wie kann man "leichter" vergeben? Für mich als Psychotherapeut ist es auffallend zu sehen, wie groß die Zahl jener ist, denen es sehr schwer fällt zu verzeihen und die wegen ihrer Unfähigkeit zu verzeihen verzweifeln: unfähig, sich selbst zu vergeben, anderen zu vergeben und vor allem sich von Gott vergeben zu lassen. So habe ich also begonnen, die Frage des Vergebens zu studieren...

Woher kommt unsere Unfähigkeit zu verzeihen?

P. Monbourquette: Die Vergebung wurde allzu oft als moralisches Gebot hingestellt. Sehr verletzte Menschen versuchen daher zu vergeben und zwar durch einen großzügigen, heroischen Akt, der jedoch nicht ihrer Gefühlslage entspricht. Ihr Innenleben bleibt verletzt und chaotisch. Wenn man diese Gefühlsbewegung verleugnet, wenn man sie verdrängt, so gelangt man nicht zur wahren Vergebung. Während eines Vortrages ist kürzlich eine ältere Nonne aufgestanden und hat mir entgegengerufen: "Sie behaupten also, daß ich nicht vergeben hätte!" Ich bat sie, das näher zu erklären. Sie antwortete: "Vor 40 Jahren hat mich meine Oberin sehr ungerecht behandelt. Ich bin ihr zwar gram..., aber ich habe ihr verziehen." Ich darauf: "In ihrer Vergebung ist viel Großmut, Schwester, aber sie ist nicht vollständig. Sie haben ihre Verletzung nicht gesäubert, sie eitert noch." 40 Jahre lang ist diese Frau, die ihr Leben Gott geschenkt hatte, wegen dieser Angelegenheit blockiert gewesen: Sie hatte mit dem Kopf verziehen, aber nicht mit dem Herzen. Eine nicht erteilte Vergebung kann die spirituelle und psychologische Entwicklung der Person blockieren.

Braucht die Vergebung nicht doch einen Willensakt?

P. Monbourquette: Zwei Irrtümer sind zu vermeiden: Erstens, daß man Verzeihen auf ein rein menschliches Verhalten reduziert, motiviert durch Angst, Interessensgründe, Mitleid... Zweitens, daß man Vergebung ausschließlich in die Zuständigkeit Gottes überträgt. "Nur Gott kann vergeben," so hört man. Da bleibt kein Raum für die Verantwortung des Menschen. Die Vergebung ist sowohl Aufgabe des Menschen wie Geschenk Gottes. Sie liegt am Schnittpunkt des Menschlichen und des Geistigen. Wo vergeben wird, dort ist der Heilige Geist am Werk. Denn die normale Reaktion auf eine Beleidigung ist, sich zu rächen.

Sie haben verschiedene Etappen der Vergebung unterschieden...

P. Monbourquette: Es handelt sich um ein "Modell" der Vergebung, wie die Amerikaner sagen würden. Es kann uns helfen, das Ziel zu erreichen: das Rachegefühl ausklingen lassen; die Wunde heilen; schließlich imstande zu sein, für die Person, die uns verletzt hat, zu beten, sie zu lieben. Hat man den inneren Frieden gefunden und die Vergebung von Gott erhalten, so kann man auch selbst verzeihen. Aber man braucht dafür Zeit.

Ist das Verzeihen ein Privileg der Christen?

P. Monbourquette: In gewisser Hinsicht ja, denn nur Christus hat in so radikaler Form auf der Notwendigkeit bestanden, eine "Mentalität" des Vergebens zu entwickeln. Das verhindert nicht, daß auch Ungläubige imstande sind, zu verzeihen. Sie können ja eine Eingebung dieser unbedingten Liebe erhalten. Die Quelle aller Vergebung ist in letzter Konsequenz das Wissen, daß wir von dem Gott, der reich an Erbarmen ist, ohne jede Vorbedingung geliebt sind. Im Gegensatz dazu werden manche Gläubige nicht vergeben können, weil ihr Gott ein rächender Gott ist, ein harter, strenger, der nicht vergibt.

Welche ist die schwierigste Etappe beim Verzeihen?

P. Monbourquette: Sich selbst zu vergeben und die innere Einheit wiederherzustellen. Die Beleidigung bringt uns durcheinander. Wenn man gekränkt ist, identifiziert sich ein Teil unserer Person mit dem Angreifer. Ein Teil ist also Opfer, der andere setzt den Angriff fort. Wenn mein Chef beispielsweise sagt, ich sei dumm, dann verbringe ich den Abend damit, mir zu sagen: "Er hat mich dumm genannt, aber ich bin doch nicht dumm!" Die Kränkung geht weiter... So als wäre der Angreifer in uns eingedrungen. Sich lieben und sich vergeben zu lassen, das ist das Schwierigste.

Wann kann man sagen, man habe wirklich verziehen?

P. Monbourquette: Wenn die Haßgefühle und der Wunsch, sich zu rächen verschwunden sind. Das große Zeichen für die christliche Vergebung ist die Fähigkeit, dem Angreifer Gutes wünschen zu können, für den, der uns wehgetan hat, beten zu können. Dann kann man wohl sagen, daß die Vergebung in uns eingedrungen ist.

Sie schreiben: "Um vergeben zu können, muß man sich vom Vergeben-Wollen freimachen."

P. Monbourquette: Ja. Auf die eigene Vergebung verzichten. Man schenkt nicht Vergebung, man läßt sich von der Vergebung erfassen. Verzeihen ist keine Aufgabe, sondern ein Geschenk. Es ist die unbedingte Liebe Gottes, die es mir erlaubt zu vergeben. Sonst ist es ja meine Vergebung... Im Verzeihen kann der Stolz wohnen, das Gefühl spiritueller Überlegenheit. Wenn Jesus jemandem vergeben will, dann bittet er ihn um etwas: "Zachäus steig vom Baum, laß mich bei dir wohnen..." Die Samariterin bittet er um Wasser. Er eröffnet das Gespräch nicht mit: "Ich vergebe dir, sündige nicht mehr." Er wertet den auf, der gesündigt hat. Es ist die Demut dessen, der wirklich vergibt. Selbst Christus hat sich von Seiner Vergebung gelöst: Als er seinen Mördern am Kreuz vergeben wollte, hat nicht Er sich die Vergebung angemaßt: "Vater vergib ihnen..." Um zu zeigen, daß die Vergebung vom Vater kommt. Wir sind nur das Echo der Stimme Gottes, der in uns vergibt.

P. Monbourquette ist Professor für Pastoraltheologie in Ottawa und Autor von "Comment pardonner" (Novalis/C enturion). Das Gespräch führte Luc Adrian (Famille Chrétienne v. 15.4.99)

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