VISION 20003/2001
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Seht Ihr denn nicht die Zeichen des Lebens?

Artikel drucken Auch unsere Zeit ist in der Hand Gottes aufgehoben (Urs Keusch)

Nietzsches zynische Bemerkung den Christen seiner Zeit gegenüber ist bekannt: “Bessere Lieder müßten sie mir singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne; erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!"

Nietzsche war wohl der härteste Kritiker des Christentums. Das kam nicht von ungefähr. Er litt unsäglich an seiner Zeit: an einem erstickten, erloschenen Christentum, wie er es auch in seinem lutherischen Pfarr- und Elternhaus erlebt hatte. Er litt an Gott. “Das Leben ist zu Ende, wo das Reich Gottes anfängt," schreibt er in seiner “Götzendämmerung". “Gott ist ein Gedanke, der macht alles krumm, und alles, was steht, drehend."

Nietzsche war ein zutiefst religiös veranlagter Mensch. Er wollte glauben. Er wollte anbeten. Er wollte aber auch leben: Ja sagen zum Leben aus ganzem Herzen! Aber er fand überall nur noch “den Leichengeruch eines toten Gottes", wie er es einmal ausdrückt. Einen Gott, der alles krumm macht.

Das findet Niederschlag auch in seinem Hauptwerk, dem “Zarathustra", wo er schreibt: “Seit es Menschen gibt, hat der Mensch sich zu wenig gefreut: das allein, meine Brüder, ist unsere Erbsünde."

Hat Nietzsche so unrecht? Ist nicht gerade das Fehlen der Freude im Leben, im Glauben und im Gottesdienst des Menschen so etwas wie Sonnenfinsternis, die allmählich alles Leben auf Erden erstarren und ersticken läßt?

Wenn Nietzsche gesagt hat, “Gott ist tot", dann meinte er vor allem den Tod eines Gottes, der mit dem lebendigen Gott der Bibel fast nur noch den Namen gemeinsam hatte: den moralischen Gott, den “Aufpasser-Gott", den Gott der “niederdrückenden Affekte". Nietzsche hat dem moralischen, freudlosen Christentum keine Chance mehr gegeben. Und wie hat er Recht bekommen!

Hier, meine ich, liegt auch eine Ursache, warum sich in den letzten Jahrzehnten so viele Menschen von der Kirche und dem Christentum zurückgezogen haben, vor allem die jungen Menschen. (Und wir täten gut daran, dieser Tatsache größere Aufmerksamkeit zu schenken!)

Es ist nicht einfach Gottlosigkeit, die in den letzten Jahrzehnten die Massen erfaßt hat. Es ist ein Leiden am Christentum und nicht selten ein Verzweifeln. Es ist oft auch unbewußte instinktive Abkehr von einer ausgehöhlten und freudlosen religiösen Praxis. Der Mensch ist nicht einfach gottlos. Er ist im Gegenteil gottsüchtig. Und er will leben, vor allem leben!

Und leben heißt: Zukunft haben, dem Leben mit Erwartung ins Angesicht sehen, dem Leben vertrauen! Und Zukunft hat nur der Mensch, der aus einer natürlichen Lebensfreude heraus sein Leben gestalten kann.

Der tiefste Grund der Lebensfreude ist das Eingeborgensein im Urgrund des Lebens: in Gott. “Denn bei dir ist die Quelle des Lebens" (Ps 36,6). Er ist der inspirierende Grund unserer Hoffnung und Lebensfreude. Paulus nennt die Freude eine Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22). Sie entzündet sich an der Berührung des Menschen mit Gott im Heiligen Geist.

In einem bewegenden Moment der Geschichte Israels ruft der Priester Esra dem verstörten Volk zu: “Die Freude an Gott ist unsere Kraft!" (Neh 8,10) Und damit faßt er das religiöse Lebensgefühl seines Volkes zusammen.

“Du sollst vor dem Herrn, deinem Gott, fröhlich sein!" (Dt 16,9). Diese Freude drückt sich im ganzen Leben des Gottesvolkes aus: in seinen Festen, in seinen Liedern (Psalmen), in der Sabbatfreude und an den gottgeschenkten Sinnenfreuden des Lebens. Schlagen Sie einmal eine Bibelkonkordanz auf! Sie werden überwältigt sein, welch breiten Raum die Freude da einnimmt.

Diese Sicht ist Nietzsche entgangen. Dieses lebensbejahende Grundgefühl der Freude hat er (vor allem im Christentum) nicht mehr vorfinden und aufspüren können.

Und doch: Gerade im Christentum, im Kommen des Messias, erfährt diese Freude ihre letzte Überhöhung: “Seht, ich verkünde euch eine große Freude! Heute ist euch der Retter geboren." (Lk 2, 10f) Nun ist er da, der Freudenbote Gottes, auf den die Menschen fast 2000 Jahre lang sehnsüchtig gewartet haben.

Diese Freude überstrahlt nun die ganze Geschichte der Menschen bis zur Wiederkunft des Herrn. Darum nennen wir diese Botschaft: Evangelium - frohe, freudige, fröhliche Botschaft! Es ist die frohe Botschaft vom Ja Gottes zum Menschen und zum Leben. Es ist die frohe Botschaft vom Neuanfang. Es ist die frohe Botschaft vom Sieg des Lebens über den Tod. Es ist die frohe Botschaft von einem Gott, der unser Bruder geworden ist und mitfühlt mit all unseren Nöten, Schmerzen und Ängsten dieses Lebens (Hebr. 4,5). Es ist die frohe Botschaft, daß Gott Ihm alle Macht gegeben hat im Himmel und auf Erden und daß Er immer bei uns ist bis ans Ende der Weltzeit (Mt 28,18-20).

Und darum haben wir Christen allen Grund zu “unsagbarer, von himmlischer Herrlichkeit verklärter Freude". Denn wir sind nicht alleingelassen. Wir sind keinem blinden Schicksal ausgeliefert. Es geschieht bis zu Seiner Wiederkunft nichts im Himmel und auf Erden, ohne daß Er es weiß, daß Er es sieht, daß Er es mitgeht und letztendlich besiegt.

Das ist unser Glaube, unsere Hoffnung. Hier ist das Becken mit den glühenden Kohlen, an dem der Christ in der Dunkelheit und Bedrängnis dieses Lebens immer wieder das Feuer der Freude anmachen kann. So haben die ersten Christen geglaubt und gehofft. “Seid voll Freude, obwohl ihr unter mancherlei Prüfungen zu leiden habt ... Ihr glaubt an Ihn und jubelt in unsagbarer, von himmlischer Herrlichkeit verklärter Freude, da ihr das Ziel des Glaubens erreichen werdet: euer Heil" (1Petr 1,6-8).

Gewiß: wir durchleben heute in Welt und Kirche eine Phase der Geschichte, die wahrscheinlich einmalig ist und kaum noch von jemand überschaut und begriffen werden kann. Das Leben des Menschen und des Planeten ist von allen Seiten angefochten und bedroht. Die natürliche Lebensfreude droht in den Menschen zusehends zu ersticken. Die Oasen des Menschlichen verschwinden immer mehr. Die jungen Menschen und die Kinder werden von einer dunklen Flut von Bildern überschwemmt und haltlos mitgerissen.

Dem Zeit- und Leistungsdruck am Arbeitsplatz, ja, selbst in den sozialen und medizinischen Berufen sind viele Menschen nicht mehr gewachsen. Der Seele bleibt fast kein Wohnraum mehr. Das Schöne weicht dem Häßlichen. Wir sprechen seit Jahren von einer Kultur des Todes. Viele Menschen ertragen den Anblick von so viel Bedrohung nicht mehr - und zerbrechen.

Und trotzdem! Der Christ darf wissen: Auch diese unsere Zeit ist in der Hand dessen aufgehoben, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden (Mt 28,18). Wir dürfen uns von der Dunkelheit und dem Schmerz unserer Zeit nicht überwinden lassen. Es sind letztlich immer “nur" Geburtswehen für den Messias, der wiederkommen will, um Seine Schöpfung endgültig zu vollenden.

Ist Ihnen schon aufgefallen, wie nachhaltig unser Papst immer wieder auf “die Gnade des Heiligen Jahres" hinweist, die in unser Jahrtausend hineinwirken soll und will? Er wird nicht müde, die Christenheit daran zu erinnern.

Es haben im vergangenen Jahrhundert etwa 26 Millionen Christen ihr Leben gelassen. “Das Blut der Märtyrer ist ein Same der Christenheit", sagt Tertullian. Und dieser Same geht nun auf. Es regt sich heute auf der ganzen Welt im Verborgenen viel Neues und Schönes Leben. Es bildet sich heute ein ganz neues Christentum heran, ein Volk Gottes, weitab davon, Staats-, Kultur- und Volksreligion zu sein.

Es regt sich in allen christlichen Bekenntnissen. Und es regt sich in geschwisterlicher Offenheit allen Menschen gegenüber, vor allem unseren jüdischen Brüdern und Schwestern. Der Herr selbst sammelt sich heute Sein Volk aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen (Offb 7,9).

“Der Vater ist noch immer am Werk" (Joh 5,17). Auch uns gilt heute jener Zuspruch, den Gott damals Seinem Volk in trostlosester Situation, der babylonischen Gefangenschaft, gemacht hat: “Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?" (Jes 43,18f)

Merkt ihr es nicht? - Um diese Aufmerksamkeit geht es heute; daß wir Augen und Ohren haben für alle Lebenszeichen, die sich den Todesschatten unserer Zeit entgegensetzen; daß wir den Blick immer auch “über die Zeit" gerichtet halten, von wo uns der Herr entgegenkommt; daß wir nie vergessen: auch unsere Tage sind schon überwunden von dem, der gesagt hat: “In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt." (Joh 16,33)

Darum laßt uns die Hoffnung feiern!

* Laßt uns mit neuer Zuversicht und mit herzlicherer Aufmerksamkeit als bisher den ersten Tag der Woche feiern: den Sonntag, die Auferstehungsfreude! Lassen wir diese Freude über alle Tage der Woche erstrahlen. Nehmen wir sie mit an den Arbeitsplatz.

* Feiern wir in der Familie wieder vermehrt und aufmerksamer die Feste des Kirchenjahres. Singen wir “bessere Lieder"! Zünden wir Kerzen an!

* Setzen wir im Alltag wieder bewußt Zeichen der Freude. Seien wir einander “Helfer zur Freude" (2Kor 1,24).

* Lassen wir unsere Kinder und Jugendlichen spüren, daß wir an das Leben glauben, an die Zukunft, an den österlichen Sieg des Lebens. Geben wir ihnen ein Beispiel christlicher Lebensfreude. “Wer von Freude erfüllt ist, predigt, ohne zu predigen." (Mutter Teresa)

Und dann verstehen wir den Apostel Paulus, wenn er seinen Freunden in Philippi schreibt: “Vor allem, meine Brüder, freut euch im Herrn! Euch immer das gleiche zu schreiben wird mir nicht lästig, euch aber macht es sicher." (Phil 3,1)

Der Autor ist Priester und wohnt in 6260 Reiden, Schweiz

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