VISION 20003/2002
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Du bist ein Bild Gottes, ein Licht für die Welt

Artikel drucken Es ist Zeit, sich abzuwenden von der Vertierung des Menschen (Von Urs Keusch)

Was hat man den Menschen nicht alles eingeredet! Sie seien nichts als höherentwickelte Tiere, nur triebgesteuert, Produkte gesellschaftlicher Prägung. Du kommst aus dem Nichts und fällst dorthin zurück - also genieße! Allein, es stimmt nicht. Wir sind nach Gottes Bild geschaffen.

Ich sah eine große Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer Werke müde. Eine Lehre erging, ein Glaube lief neben ihnen her: Alles ist leer, alles ist gleich, alles war! Und von allen Hügeln klang es wieder: Alles ist leer, alles ist gleich, alles war."

Das Gefühl, das hier Nietzsche vor 120 Jahren beschrieb, ist der Zustand des Nihilismus: eine Folge des “Todes Gottes". Es ist das Gefühl der Ziellosigkeit des Menschen, der Sinnlosigkeit, der Freudlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit. Es ist die Traurigkeit auf den Gesichtern der Menschen. Es ist die Müdigkeit der Seelen. Es sind die verschleierten Augen.

Der Mensch weiß nicht mehr, wozu er lebt. Denn wo es keinen Gott mehr gibt, ist das Leben wie ein einziger grauer Novembertag. Dann sieht der Mensch keinen Weg mehr vor sich hinziehen. Dann hat er keine Aufgabe mehr im Leben. Dann kann er nur noch essen und trinken, denn morgen ist er tot (vgl 1 Kor 15,32).

Wenn es keinen Gott mehr gibt, dann kann der Mensch auch nicht nach dem Bild Gottes geschaffen sein. Und in der Tat: Seit über 150 Jahren wird dem Menschen von den Lehrstühlen der Welt eingeredet: Es gibt keinen Gott. Du bist kein Geschöpf von Gott. Du bist nicht mehr als ein “mißratenes Tier" (Nietzsche). Du bist ein dem Urwald entlaufener Affe. Werde, was du bist: werde wieder Tier! Streif dir die Moral ab, die dir das Christentum anerzogen hat und die dich zum Sklaven gemacht hat. Lebe wieder deine erste Moral: die ursprüngliche, wilde Freiheit des Tieres.

Diese Botschaft ist kaum an jemandem ganz spurlos vorübergegangen. Sie hat ganze Massen erfaßt. Schon Pascal (1623-1662) hat um diese Gefahr gewußt: “Es ist gefährlich, den Menschen zu deutlich sehen zu lassen, wie sehr er den Tieren gleicht, ohne ihm seine Größe zu zeigen."

Von dieser Größe des Menschen weiß niemand so ergreifend zu berichten wie die Bibel. Schon auf den ersten Seiten heißt es vom Menschen: Du bist nach dem Bild Gottes geschaffen! Zwar bist du vom Lehm der Erde genommen, aber den Lebenshauch hast du von Gott, er ist Hauch von seinem Hauch, Odem von seinem Odem.

In Psalm 82 werden die Menschen, zu denen Gott gesprochen hat, “Götter" genannt. Jesus bestätigt das in Joh 10,43. So hat das Judentum den Menschen gesehen. Und so sieht ihn das Christentum.

Ja, im Licht der Menschwerdung Gottes sehen wir Christen den Menschen in einem noch viel strahlenderen Licht. Denn daß Gott Mensch geworden ist, verleiht dem Menschen unter allen Geschöpfen die höchste Würde. Und “Würde ist das Ziel der Menschenbildung", sagt der große Menschenkenner Johann Heinrich Pestalozzi.

Mit Seiner Menschwerdung hat Gott uns Menschen zu verstehen gegeben: Du bist von mir so groß, so schön, so herrlich gedacht, daß ich Mensch werden wollte! In Jesus Christus ist das Bild Gottes im Menschen uns Menschen sichtbar als Mensch erschienen.

Es ist uns vorausgegangen und hat uns geleuchtet wie die Wolkensäule den Israeliten, als Gott sie aus der Knechtschaft Ägyptens herausführte. Seither wissen wir, was es heißt, nach dem Bild Gottes geschaffen zu sein. Seither haben wir ein Bild vor uns, ein leuchtendes Vor-Bild, das uns herausführt aus Verstrickung und Gefangenschaft in das Böse und Zeitliche. “Denn nur in der Nachfolge Jesu erhebt sich der Mensch über alle Verirrungen in guten und schlechten Lebenslagen", sagt Pestalozzi.

So hat die christlich-humanistische Bildung seit jeher ihre Aufgabe verstanden: Du sollst das göttliche Bild in dir hervorbringen. Du sollst dich nach dem Bilde des Gottmenschen emporbilden. Du sollst Christ werden. Oder wie es Dostojewskij ausdrückte: “Auf Erden irren wir wahrhaftig umher, und hätten wir nicht das kostbare Bild Christi vor uns, dann gingen wir ganz zugrunde und verirrten uns völlig, wie das Menschengeschlecht vor der Sintflut."

Und in der Tat: Ist nicht eben gerade das mit uns Menschen geschehen? Haben wir uns, seit das Licht des Glaubens verdunkelt und weithin ausgegangen ist, nicht eben verirrt wie die Menschen vor der Sintflut? Ist uns das Bild Christi, das in die Freiheit führende Vor-Bild des Gottmenschen, nicht abhanden gekommen?

Jedenfalls hat es Nietzsche so empfunden, als er schrieb: “Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?"

Es ist auch der neueren Psychologie nicht entgangen, daß wir uns verirrt haben, maßlos verirrt: daß mit der einseitigen Betonung des Tierischen und Geschlechtlichen im Menschen dieser auf weite Strecken entmenschlicht worden ist. Oder wie es schon Pestalozzi ausdrückte: “Wer das Göttliche in sich nicht fühlt, ist nur halb Mensch."

Wir haben im letzten Jahrhundert der Kriege eine solche Entfesselung der bestialischen Kräfte im Menschen erlebt, daß die Erinnerung daran nie mehr aus dem Menschheitsgedächtnis wird ausgelöscht werden können.

Wir nehmen heute eine Lähmung der höheren seelischen Kräfte im Menschen wahr, eine Verödung und Animalisierung in der Begegnung der Geschlechter, ein Erlöschen der Liebe und der Ehrfurcht in den zwischenmenschlichen Begegnungen und Beziehungen, daß einem vor der Zukunft bangt.

Die “sexuelle Revolution" der vergangenen Jahrzehnte hat uns in eine noch nicht absehbare menschliche und gesellschaftliche Not hineingebracht. Nirgends so wie in diesem Bereich erlebt heute der Mensch tiefere Abstürze. “Der religiös kalte Mann ist wie ein wildes, ungebändigtes, rohes Tier", stellte schon Franz von Sales (1567-1622) fest. Nirgendwo geschieht heute mehr innere Entwürdigung und dämonische Verstrickung als hier.

Nirgends geschieht mehr Unterdrückung und Entwürdigung der Frau. Nirgends entzündet sich der Kampf der Geschlechter so aggressiv. Nirgends wie hier liefert sich der Mensch den dunklen Unterspülungen seiner Seele aus. “Selig, die reinen Herzens sind", sagt der Herr in der Bergpredigt, “sie werden Gott schauen."

Sie werden Gott schauen, schon in diesem Leben. In ihrem eigenen, inneren, göttlichen Bild werden sie Gott schauen. Im reinen Spiegel ihres Herzens werden sie sein leuchtendes Angesicht sehen. Es ist gewiß wahr, was der heilige Franz von Sales sagt: “Nichts ist schön außer durch die Reinheit; die Reinheit des Menschen aber ist die Keuschheit."

Ja, selig die Menschen, die noch wissen, daß sie sich den Mächten der Selbstentwürdigung und der Selbstzerstörung ausliefern, wenn sie sich willenlos den sinnlichen Impulsen und Antrieben überlassen und das “Recht auf Sinnlichkeit" in sich nicht in die Schranken weisen.

Selig die jungen Menschen, die dieses Wissen in sich noch fühlen und bereit sind, mit Hilfe der Liebe Gottes die Tugend der Reinheit und Keuschheit hochzuhalten, auch wenn sie sich ganz allein vorkommen. Sie sind nicht allein! Weltweit wächst die Zahl jener jungen Menschen und Christen, die aus einem geistlichen Instinkt heraus wissen: “Wahre Liebe wartet."

So haben es schon die ersten Christen gemacht. Sie haben “mitten in einer verdorbenen und verwirrten Generation als Lichter in der Welt geleuchtet" (Phil 2,15). Sie haben das Wort des Herrn in ihrem Leben wahrgemacht: “Wer mich liebt, hält meine Gebote." (Joh 14,15) Als solche sind sie von den Heiden bewundert und hochgeachtet worden. In solcher Reinheit und Keuschheit sind sie in die Ehe getreten und haben ihren Bund der Liebe von Gottes Liebe segnen lassen. So haben sie einer verlorenen Welt das hinreißende und strahlende Beispiel österlicher Menschen gegeben. Und als solche leuchten auch heute wieder viele Christen der Welt wie Lichter in der Nacht.

Die Welt kann nicht bestehen ohne die reinen Menschen. Ohne Reinheit verfinstert sich das Licht des Glaubens in den Herzen der Menschen. Ohne Reinheit erlischt das Göttliche in den Menschen, auch in der Kirche. Ohne Reinheit verliert der Mensch seine innere Würde. Er verliert die Selbstachtung und die Achtung vor dem anderen.

Das göttliche Bild schwimmt ihm davon. Sein Leben ist ohne Glanz und Wegweisung aus dem Ewigen. Es ist ohne göttliche Qualität und Strahlung. Der Mensch vertiert und wird gewaltsam, wird aggressiv, nicht nur gegen sich, sondern gegen alles, was höher steht als er. Er büßt einen großen Teil seines besten Einflusses auf die Menschen ein, vor allem auf die Kinder und die Jugendlichen. Ohne Reinheit verliert der Mensch fast alles. “Nichts ist schön außer durch die Reinheit" (Franz von Sales).

Als man Michelangelo beim Bearbeiten eines Steins fragte, was er damit darstellen wolle, gab er zur Antwort: “Ich will nichts darstellen, ich hole nur heraus, was im Stein schon vorhanden ist." So sind seine herrlichen Werke entstanden.

Und so versteht sich christliche Bildung. Jeder Mensch ist berufen, sein ganzes Leben lang Bildhauer zu sein: das Bild in sich herauszuholen, das göttliche Bild in seinem Leibe und in seinem Leben, so gut er es vermag, zur Darstellung zu bringen. Oder wie es Pestalozzi ausdrückte: “Der einzige Adel des Menschen liegt darin, daß er auf die göttliche Stimme in seinem Innern hört und sie befolgt."

Wer sich dieser Lebensaufgabe entzieht, wird spätestens in der zweiten Hälfte seines Lebens einer inneren Leere und Verödung entgegengehen. Er wird in seinem Leben kaum mehr Sinn finden. “Eine große Traurigkeit" wird über ihn kommen. Er wird des Lebens müde werden. “Alles ist leer, alles ist gleich, alles war."

Doch wer sich dieser Lebensaufgabe hingibt, wird eine tiefe verborgene Freude in sich verspüren. Er wird von Stufe zu Stufe höher steigen. Er wird einmal nicht enttäuscht auf sein Leben zurückblicken müssen. Er wird vielmehr in demütiger Freude erkennen dürfen: Mein Leben hat sich wunderbar gelohnt. Es war schön. Gott sei gepriesen! Ich durfte schon in diesem Leben etwas vom Ewigen erfahren und in meinem Leben zur Darstellung bringen.

Das meinte Mutter Teresa, wenn sie jeweils den jungen Menschen sagte: “Machen Sie aus ihrem Leben etwas Schönes!"

Ja, mach daraus etwas Schönes! Und denk daran: Dieses Werk nimmt kein Ende, solange du lebst. Nie bist du ganz am Ziel. Du bleibst immer etwas zurück hinter der vollendeten Schönheit deines göttlichen Bildes in dir. Du kannst noch geduldiger werden, noch liebevoller, noch reiner, noch wohlwollender in deinen Gedanken, noch nachsichtiger, noch barmherziger, noch nachgiebiger, noch dankbarer. Die Arbeit an dir selber geht dir niemals aus.

Ich möchte Ihnen ein ermutigendes Wort von Dostojewskij mitgeben. Er war einer von uns und ist wie wir durch die modernen Verirrungen hindurchgegangen. In Jesus Christus fand er seinen Weg und seinen Erlöser. In Ihm werden auch wir aus der Dunkelheit unserer Zeit herausfinden. Er schreibt:

“Laßt euch in eurem Tun nicht irre machen durch die Sünde der Menschen. Fürchtet euch nicht, daß sie euer Werk verdrängt und es nicht vollenden läßt. Sagt nicht: ,Mächtig ist die Sünde, mächtig ist die Zuchtlosigkeit, mächtig die schlimme Umwelt, wir aber sind einsam und schwach, die böse Umwelt wird uns zermürben und wird uns das gute Werk nicht vollenden lassen.'

Flieht diese Verzagtheit! Hier gibt es nur eine Rettung: Mache dich selbst verantwortlich für alle menschliche Sünde. Das ist ja auch in Wahrheit so, lieber Freund, denn sobald du dich aufrichtig für alles und für alle verantwortlich machst, siehst du sofort, daß es wirklich so ist und daß du in der Tat die Schuld für alle und alles trägst.* Wälzst du aber deine Trägheit und deine Schwachheit auf die Menschen ab, dann endest du damit, daß du von satanischem Hochmut erfaßt wirst und gegen Gott murrst... Denke daran: der ewige Richter wird dich nach dem fragen, was du erfassen konntest, und nicht nach dem, was du nicht konntest."

 

* Es geht Dostojewski nicht darum, die Heilswahrheit, dass Christus “die Schuld für alle und alles" getragen hat, zu negieren. Er meint vielmehr: Du bist mit dem, was du an Gutem unerlassen und Bösem getan hast, immer auch hineinvenetzt in die aktuelle Schuld und Sünde der Welt und darum aufgerufen, durch persönliche Umkehr deinen Beitrag zu mehr Gottesherrschaft auf Erden beizutragen.

Der Autor ist Priester und wohnt in der Schweiz.

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