VISION 20004/2002
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Bleibendes stiften die Dichter

Artikel drucken Gedanken für den Tag

Die Poeten sind es, die der göttlichen Wahrheit die Flügel anheften", schrieb einmal Heinz Zahrnt. Christlicher Glaube - will er lebendig sein - erschöpft sich nicht darin, ewig gültige Formeln einfach zu bekennen. Leben aus dem Glauben bedeutet zuinnerst, der liebenden Beziehung mit Gott Raum zu geben und sie über alles zu stellen.

So wie vieles im mitmenschlichen Bereich bewegen sich gerade die Suche nach und die Begegnung mit Gott an der Grenze zum Aussprechbaren. Allein der Musik und der Dichtung ist es oft gegeben, unseren Gedanken und Herzen Flügeln zu verleihen, die uns in das Land Seiner Gegenwart tragen können. Nicht umsonst sind die Psalmen in Gedichtform verfaßt und werden bevorzugt gesungen.

Als guter Führer durch die Landschaften deutschsprachiger Lyrik erweist sich aus dieser Perspektive der Grazer Bischof Egon Kapellari in seinem jüngsten Buch. In 80 eineinhalbseitigen Texten behandelt er herausragende Gedichte von 19 Dichtern unterschiedlicher Epochen.

Kapellari mahnt, manch altertümlich erscheinendes Gedicht nicht vorschnell abzutun: “Diese Texte sind nicht harmloses, überholtes Biedermeier, sondern ein Anruf an jeden, der noch hören kann, was die Dinge sagen."

Weit über die Hälfte der angesprochenen Gedichte stammen aus dem 20. Jahrhundert. Die meisten haben vordergründig nichts mit Glaube zu tun. Es ist faszinierend zu beobachten, wie es dem Autor gelingt, sie sachte aber bestimmt als Suche des Menschen nach Gott zu lesen.

Wenn es in einem Gedicht von Ingeborg Bachmann heißt: “Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein", dann wandelt Kapellari nach Gedanken über den Lobpreis diese Verszeile so um: “Nichts Schönres unter Gott als unter Gott zu sein, als sich geborgen zu fühlen unter seinem Schutz."

Hoffnung und Erwartung, Leid und Tod kreisen um die ausgewählten Gedichte. Aus ihnen liest der Bischof die Zeichen der Zeit - und auch unerwartet so manchen Wegweiser. Zu Marie Luise Kaschnitz liest man daher diese wichtige Aussage: “Sie wollte nur warnen, und das ist einer der Aufträge an Propheten. Die biblischen Propheten waren vor allem Warner und Tröster. Und auch nichtbiblische Dichtung und andere Literatur sind zu einem guten Teil auf diese Art prophetisch."

An Schlüsselstellen werden biographische Elemente beigegeben, die die Tragik so manchen Textes erst verstehbar machen. Georg Trakel schrieb: “Tiefe Ruh - o tiefe Ruh! / Schließ mit deinen kühlen, guten / Händen alle Wunden zu - / Daß nach innen sie verbluten - / Süße Schmerzensmutter - du!" Dazu die Hinführung: “Todessehnsucht des Dichters kommt hier zu Wort, die sich am 4. November 1914 in der Irrenabteilung des Garnisonsspitals in Krakau auf schreckliche Weise erfüllt hat."

Kapellari führt den Leser dahin, zwischen den Zeilen zu lesen und in die Tiefe zu gehen. All jene finden hier anregende Gedanken, die den Tag nicht mit stumpfsinnigen Morgensendungen einläuten oder banalisierenden Fernsehshows ausklingen lassen wollen.

Bernhard A. Eckerstorfer OSB

Egon Kapellari, Aber Bleibendes stiften die Dichter. Gedanken für den Tag. Styria-Verlag, Graz 2001, 216 Seiten, Euro 18.-


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