VISION 20003/2003
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Klein bleiben wollen und unbedingt vertrauen

Artikel drucken Der kleine Weg der heiligen Therese von Lisieux (Von Ingeborg Obereder)

“Das ist es, was Gott will: eure Heiligung. (1 Thess 4,3)" Mit diesem prägnanten Wort legt uns der Apostel Paulus klar dar, worin der Sinn und das Ziel unseres Lebens bestehen. Soll unser Leben dem Willen Gottes entsprechen, müssen wir all unser Bemühen daran setzen, heilig zu werden!

Therese von Lisieux, die “kleine" heilige Therese, hatte schon als Kind die “absolute" Sehnsucht, eine Heilige zu werden. Deshalb begab sich Therese leidenschaftlich auf die Suche nach einem Weg zur Heiligkeit, einem Weg, den auch “kleine Seelen", zu denen sie sich zählte, gehen können.

Am Anfang ihrer Suche begegnete sie allerdings einem großen Problem: Wenn sie sich mit den Heiligen verglich, mußte sie feststellen, daß zwischen ihnen und ihr ein Unterschied bestand wie in der Natur zwischen dem hohen Berg, dessen Gipfel sich in den Wolken verliert, und dem verborgenen Sandkorn.

Trotzdem verlor sie nicht den Mut. Sie sagte sich: “Gott flößt keine unerfüllbaren Wünsche ein, ich darf also trotz meiner Kleinheit nach der Heiligkeit streben; mich größer machen ist unmöglich; ich muß mich ertragen, wie ich bin, mit allen meinen Unvollkommenheiten; aber ich will das Mittel suchen, in den Himmel zu kommen, auf einem kleinen Weg, einem recht geraden, kurzen, einem ganz neuen kleinen Weg.

Wir leben in einem Jahrhundert der Erfindungen, man nimmt sich jetzt die Mühe nicht mehr, die Stufen einer Treppe emporzusteigen, bei den Reichen ersetzt ein Fahrstuhl die Treppe aufs vorteilhafteste. Auch ich möchte einen Aufzug finden, der mich zu Jesus emporhebt, denn ich bin zu klein, um die beschwerliche Treppe der Vollkommenheit hinaufzusteigen. Ich suchte daher in den heiligen Büchern nach einem Hinweis auf den Fahrstuhl, den ich begehrte, und ich stieß auf die aus dem Munde der ewigen Weisheit kommenden Worte: Ist jemand ganz klein, so komme er zu mir ... der Fahrstuhl, der mich bis zum Himmel emporheben soll, deine Arme sind es, O Jesus!"

Therese entdeckte ihren Weg der Heiligkeit, einen Weg für die Kleinen, “ihren kleinen Weg."

Die Grundhaltung dieses Weges ist: klein bleiben wollen und unbedingtes Vertrauen. Therese erklärt, “daß man sein Nichts anerkennt, alles vom lieben Gott erwartet ...daß man sich um nichts Sorgen macht ..."

Das Ideal christlicher Vollkommenheit hat aber Jahrhunderte lang darin bestanden, groß zu sein, heroische Taten und Höchstleistungen in allen Tugenden zu vollbringen und strenge Askese zu üben. Therese hingegen erkannte wieder neu, daß Gott sich zu den Schwachen herabneigt und die Verlorenen sucht.

Thereses Kleiner Weg ist keine wissenschaftlich-systematische Lehre. Er erschließt sich, wenn man Thereses Leben betrachtet. Ihr Weg ist gangbar für alle: für Menschen, die höchste Verantwortung tragen, und für die Kleinen, für Gelehrte und Ungebildete. Voraussetzung ist nur, die eigene Unfähigkeit anzuerkennen, aus sich selbst allein Gutes zu tun. “Um ihn zu gehen, muß man demütig sein, arm im Geist und einfach", erklärte Therese - eben wie ein Kind.

Kleine Kinder fallen oft. Deshalb spricht Therese immer wieder allen Mut zu, sich wegen ihrer Schwachheiten und Fehler nicht niederdrücken zu lassen. Schon als 15-Jährige schrieb sie an ihre Schwester Céline:

“Welche Gnade, wenn wir uns am Morgen ohne Mut, ohne Kraft fühlen, um die Tugend zu üben; dann ist das der Augenblick, um die Axt an die Wurzel des Baumes zu legen (indem wir auf niemand zählen als auf Jesus allein. Wenn wir dabei fallen, ist alles in einem Akt der Liebe wieder gutgemacht) ... Die Liebe vermag alles ... Jesus schaut nicht so sehr auf die Größe der Taten, noch auf ihre Schwierigkeit, als vielmehr auf die Liebe, mit der sie vollbracht werden..."

Wesentlich für den Christen ist es, den Alltag zu meistern, ganz gleich, was man tut. Gott schaut nicht so sehr auf die Gabe des Liebenden als vielmehr auf die Liebe des Gebenden. Große Werke sind nicht notwendig.

Um Liebe zu üben, genügen winzige Anlässe, die unscheinbarsten Dinge und Taten. Kleine Aufmerksamkeiten machen ein ganzes Leben aus. In einem Brief an ihre Schwester Léonie spricht Therese ihre Überzeugung aus, daß selbst die geringsten, aus Liebe vollbrachten Taten in den Augen des Herrn wertvoll sind und Sein Herz gewinnen:

Immer wieder versucht Therese auf die “kleinen Mittel" hinzuweisen, die sich bei ihr so sehr bewährten: ein Lächeln, wenn man lieber ein mißmutiges Gesicht machen würde; ein liebes Wort, obwohl man lieber schweigen möchte; einen unangenehmen Menschen zuvorkommend behandeln; gegen jedermann freundlich sein; die Fehler der anderen ertragen und sich über ihre Schwächen nicht wundern. Vielleicht in Geduld bei einer Arbeit ausharren, ohne sie abzukürzen, ein Gebet zu Ende führen, bei dem anscheinend nichts Rechtes herausschaut. Immer fröhlich sein, gleichgültig ob man gefallen ist oder einen Sieg davongetragen hat ...

Zwei Begebenheiten, die Therese selbst berichtete, sollen ihre Verhaltensweise veranschaulichen: “Es gibt in der Kommunität eine Schwester, die das Talent hat, mir in jeder Hinsicht zu mißfallen, ihre Manieren, ihre Worte, ihr Charakter schienen mir sehr unangenehm. Sie ist jedoch eine heilige Klosterfrau, die dem Lieben Gott sicher sehr angenehm ist; so wollte ich der natürlichen Antipathie, die ich empfand, nicht nachgeben, ich sagte mir, die Liebe dürfe nicht in Gefühlen bestehen, sondern müsse sich in Werken äußern; nun bemühte ich mich, für diese Schwester zu tun, was ich für den mir liebsten Menschen getan hätte. Jedes Mal, wenn ich ihr begegnete, betete ich für sie zum Lieben Gott und bot ihm alle ihre Tugenden und Verdienste an ...

Ich gab mich nicht damit zufrieden, viel für die Schwester zu beten, die mir so viele Kämpfe verursachte, ich suchte ihr alle möglichen Dienste zu leisten, und wenn ich in Versuchung kam, ihr auf unangenehme Art zu antworten, begnügte ich mich damit, ihr mein liebenswürdigstes Lächeln zu zeigen."

Zur Grundeinstellung von Thereses Kleinem Weg gehört auch das bedingungslose Leben im Augenblick. Bereits todkrank schrieb Therese an der Geschichte ihres Lebens. Eine Szene, die sich im Garten des Karmels abspielte, gewährt uns Einblick in Thereses Verständnis vom “Leben im Augenblick":

“Kaum greife ich zur Feder, da kommt auch schon eine gute Schwester, die Heugabel auf der Schulter, an mir vorüber. Sie glaubt, mich zu zerstreuen, indem sie ein wenig mit mir plaudert: Heu, Enten, Hühner, Arztbesuch, alles kommt aufs Tapet. Offen gestanden, es dauert nicht lange, aber es gibt mehr als eine liebevolle Mitschwester, und unversehens legt eine andere Heuerin mir Blumen in den Schoß, im Glauben vielleicht, mir damit poetische Gedanken einzugeben. ... Geliebte Mutter, ich glaube, Sie hätten viel Spaß, wollte ich Ihnen alle meine Abenteuer in den Büschen des Karmels erzählen, ich weiß nicht, ob ich je zehn Zeilen schreiben konnte, ohne gestört zu werden ..."

Therese ging den Weg der Liebe. Sie wählte den Weg der “kleinen Schritte". Ihr Kleiner Weg brachte ihren Schwestern Freude und Ermutigung, Trost und Licht. Schon während ihres Erdenlebens streute Therese ungezählte Rosen der gelebten Nächstenliebe.

Oft hatte Therese den Wunsch und die Gewißheit ausgesprochen, auch nach ihrem Tod Gutes zu tun, indem sie für die Kirche beten und den Menschen ihren Kleinen Weg lehren werde. Durch unser unerschütterliches Vertrauen auf Gott werden wir in der Liebe wachsen, durch die Treue im Kleinen werden wir uns heiligen.

“Wenn Du immer treu bleibst, indem Du ihn in den kleinen Dingen erfreust, dann wird er sich verpflichtet fühlen, Dir in den großen beizustehen."

Der Weg der Hingabe und des Vertrauens ist ein Weg der Hoffnung. Nietzsches Alptraum vom unaufhörlichen Fall ins Nichts setzte Therese den Fall in die barmherzigen Hände des Vaters entgegen. Thereses Waffen gegen Unglauben, Verzweiflung und Mißtrauen waren Glaube, Hoffnung und Vertrauen. Ihr Trumpf ist die Liebe.

Den Willen Gottes erfüllen wir, wenn wir Seine Gebote halten. Im Johannesevangelium lesen wir “Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten." (Joh 14,15) Die Liebe also ist das Mittel, den Willen Gottes zu erfahren und zu erfüllen. Die jüngste Kirchenlehrerin wollte daher im Herzen der Kirche die Liebe sein. Sie wählte ein Leben aus Liebe und schreibt:

“Aus Liebe leben heißt

wagen zu tragen

unsterblichen Schatz

in sterblicher Schale.

Du, Gott, Du bist Liebe,

doch ich reine Schwäche,

so unendlich noch ferne

dem Morgensterne.

Und doch, wenn ich falle

auch Stunde um Stunde,

erbarmend umarmend

eilst stets Du zu mir,

um mich zu erheben,

voll Gnade vergebend,

so lebe ich weiter

aus Liebe."

Wir könnten weiterdichten und einen Bezug zum Willen Gottes herstellen, indem wir sagen: “und erfülle daher deinen Willen - o Herr!"

Die Autorin ist Psychotherapeutin und Autorin von Theresia von Lisieux. Rose in der Wüste, Miriam-Verlag, Jestetten.

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