VISION 20006/2003
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Aus jeder Zerstörung kann neues Leben wachsen

Artikel drucken Die Erfahrung der Geborgenheit im Kindesalter als Schlüssel zum Umgang mit Ängsten

Keine Frage, daß sie kompetent ist, über die Ursachen der Angst und den Umgang mit ihr zu reden: Maria Loley, Zeit ihres Lebens in der Beratung Hilfesuchender tätig war selbst Opfer eines Briefbomben-Attentats.

Machen wir heute nicht die Erfahrung, daß die Angst immer mehr die Gedanken und Gefühle der Menschen beherrscht?

Maria Loley: Angesichts dieser Tatsache ist es die aktuellste Frage, wie der Mensch sich der Angst entziehen kann, was er tun kann, um von der Angst loszukommen. Der Mensch gerät in Angst, wenn er sich bedroht fühlt - innerlich wie äußerlich. Bedroht vom Verhalten des Partners, des Dienstgebers, von Freunden oder Kollegen.

Angst wird uns ständig durch die Medien suggeriert. Wir hören ja vornehmlich Nachrichten, die uns Angst machen...

Loley: Der Mensch flüchtet vor der Angst. Er will der Angst entfliehen. Aber es gelingt nicht. Wo gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Je mehr die Angst das Innere des Menschen umklammert, umso hektischer wird sein Suchen nach Auswegen, nach scheinbaren Lösungen, mit denen er sich in Sicherheit wähnt.

Welche Auswege meinst Du?

Loley: Auswege der Betäubung. Er flüchtet sich in das Laute, das Hektische, um ja nicht nachdenken zu müssen, um nicht damit konfrontiert zu werden, daß die Angst eine gewalttätige Realität ist. Dieses scheinbare Zurücktreten der Angst führt ihn allerdings in letzter Konsequenz noch tiefer in deren Umklammerung. Das geschieht beispielsweise, wenn Alkohol oder Drogen über ihn Macht gewinnen oder die Konsumwut, der Rausch, alles haben zu müssen. Weil es offensichtlich nicht gelingt, der Angst zu entkommen, nehmen dann Resignation und Verzweiflung überhand - bis zum Selbstmord in allen Facetten. In diesem gesamten Vorgang verneint er schrittweise sich selbst, sein Leben. Er merkt gar nicht, daß er sich da mitten in einem fortschreitenden Sterben befindet, daß sich der Tod, dem er zu entfliehen sucht, immer mehr in seinem Leben ausbreitet. Und dann wird der Punkt erreicht, wo der Mensch nicht mehr weiter kann. Erst kürzlich hat mir eine junge Frau gesagt: “Ich kann nicht mehr!" Dieser Ausruf ist aus dem tiefsten Grund ihres Wesen aufgestiegen.

Glaubst Du nicht, daß Angst die einen in wachsende Apathie, andere in zunehmende Betriebsamkeit versetzt?

Loley: Das stimmt. Die Apathie ist der Weg in die Depression, in die Hoffnungslosigkeit. Was der Hoffnungslose dann tut, läßt sich schwer voraussagen, letztlich sucht er den Tod. Jeder, der mit Menschen zu tun hat, wird bestätigen, daß es diese Abläufe in unserer Gesellschaft in zunehmendem Maß gibt. Aber dasselbe kann durch hektisches Tun stattfinden. Man übertreibt alles so verrückt, bis es in den Tod führt.

Wovor haben die Menschen Deiner Erfahrung nach heute am meisten Angst? Einsamkeit? Bedeutungslosigkeit?

Loley: Das vage Gefühl der Angst kulminiert in der Furcht vor dem Alleinsein, vor dem Untergang, vor der Finsternis, Angst vor sich selber, vor der Trostlosigkeit, die nicht mehr auszuhalten ist. Erst kürzlich hat mir ein junger Mann gesagt: “Ich weiß nicht, wie ich meine Verlassenheit aushalten soll!" Er hat sich vom Partner abgelehnt gefühlt. Da war von Liebe schon längst nicht mehr die Rede. Aber es fehlte sogar das bißchen Freundlichkeit, das der Mensch braucht. In erschreckender Deutlichkeit zeigt sich, daß wir uns nicht in den Schutz des All-Mächtigen begeben. Irgend etwas hält uns davon ab. Das Abgehalten-Werden von dem, was Sinn hätte, was Schutz bieten würde, ist unglaublich stark vorhanden. Irgendwie ist es nicht zu verstehen, daß der Mensch sich selbst so feind sein kann. Da hätte er die Möglichkeit, sich unter einen allmächtigen Schutz zu begeben, der jegliche Bedrohung überragt - und er greift nicht nach diesem rettenden Seil.

Und warum diese Blindheit in Zeiten so großer seelischer Not?

Loley: Das ist nur mit dem Wort des Paulus zu erklären, daß wir es nicht mit Mächten aus Fleisch und Blut zu tun haben, sondern mit den Mächten der Finsternis. Und dabei müßte man nur den Psalm 91 Wort für Wort und mit einem hörenden Herz durchgehen: “Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen..." Wer ruht denn heute in Gott? Wir hören dann, daß Gott Zuflucht und Burg ist, daß wir über Nattern und Schlangen schreiten könnten, über Löwen und Drachen. Mit Gottes Schutz gelangen wir in eine Mächtigkeit, die es uns ermöglicht, Gefahren, denen wir von selbst nicht gewachsen sind, sieghaft zu begegnen. Aber dazu ist es eben notwendig, auf Gott zu vertrauen. Dann kann er uns auch retten. “Ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not, befreie ihn und bringe ihn zu Ehren," heißt es.

Das sind Worte, die sicher viele berühren. Wie aber kommt jemand dazu, daran zu glauben, sie seien auch für ihn gesagt?

Loley: Wenn ich mich überzeugen will, daß dieser Schutz tatsächlich zuverlässig ist, muß ich in mich selbst hineinhorchen. Wenn ich mich außen herum vom Lärm berauschen lasse, mich in die Betriebsamkeit stürze, wenn ich nicht stillhalten kann, dann komme ich nicht zu dieser Erfahrung. Wer aber nach innen horcht, der empfängt die Zusicherung dieses Satzes. Gott setzt alles für mich in Bewegung. Das ist wahr. Die Überwindung der Angst liegt nicht im menschlich Machbaren.

Im Neuen Testament, aber nicht nur dort, wird uns dauernd gesagt: “Fürchet euch nicht!" Warum steht das so oft in der Schrift?

Loley: Weil es eben keine menschliche Instanz gibt, die uns vor der Furcht schützt. Wir sind nämlich immer bedroht. Daher haben wir auch immer Anlaß, uns zu fürchten - nur nicht beim Herrn. Darum sagt Er oft dazu: “Ich bin es."

Von wo geht diese Bedrohung letztlich aus?

Loley: Vom Diabolos, dem, der alles durcheinander bringt. Nur von da her. Der Inhalt seiner Existenz ist es, durcheinander zu bringen - bis zur vollen Zerstörung. Das zu verharmlosen ist tragisch.

Viele meinen, die Kirche benütze das Reden vom Teufel als Drohmittel, es sei besser, gar nicht über ihn zu reden. Viele haben ihn ganz “abgeschafft". Kann man sich so die Angst von der Seele reden?

Loley: Das geht nicht. Sie bleibt erhalten. Angst muß dem Menschen von dem weggenommen werden, der stärker als die Bedrohung ist. Denn die Angst ist ja nur die Reaktion auf eine konkrete Bedrohung. Damit die Angst schwinden kann, muß zuerst die Bedrohung beseitigt werden. Nimmt man die Szenen aus dem Leben Jesu, in denen Er “Fürchtet euch nicht!" sagt, dann erkennt man: Er nimmt weg, was unsere Existenz bedroht. Es ist Ausdruck Seiner gütigen Liebe.

Kann ein Mensch einem anderen nicht die Angst nehmen?

Loley: Nein, denn er ist als Mensch ebenso bedroht.

Aber die Mutter nimmt durch ihre Gegenwart dem Kind die Angst...

Loley: Ja, da müssen wir fragen: Woher kommt die Mutterschaft? Sie ist etwas Göttliches. Sie ist unmittelbares Zusammenwirken mit dem Schöpfer. Vaterschaft und Mutterschaft sind Teilhabe an der Schöpferkraft Gottes.

Das Kind erlebt konkret an den Eltern: Der Vater, die Mutter können konkrete Bedrohungen abwenden.

Loley: Weil der Mensch da stellvertretend für Gott wirkt. Gott hätte nicht Mensch werden müssen, wenn diese menschliche Vermittlung nicht wesentlich wäre.

Die Erfahrung der Geborgenheit bedarf also der menschlichen Bestärkung.

Loley: Die Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren sind da entscheidend. Ob das Kind Haut- und Atmungskontakt hat. In dieser Vermittlung erlebt es die Stärke Gottes.

Je mehr also die Mutter sich für diese von Gott übertragenen Aufgaben öffnet, desto mehr kann sie dem Kind vermitteln, daß es mitten unter Gefahren Geborgenheit gibt.

Loley: Diese Mutterschaft ist eigentlich nicht austauschbar. Fällt sie aus, so ist es von der Vorsehung her möglich, daß sie durch den Einsatz eines anderen aufgefangen wird.

Hat die Ängstlichkeit so vieler ihre Wurzeln in der mangelnden Grunderfahrung der Geborgenheit bei Mutter und Vater?

Loley: Selbstverständlich. Das ist wissenschaftlich erwiesen, und ich kann es durch vielfältige Erfahrung bestätigen. Und wem diese Erfahrung abgeht, für den ist sie fast nicht nachzuholen. Diese Grunderfahrung ist Voraussetzung für die Vertrauensfähigkeit des Menschen. Da entwickelt sich ein Urvertrauen, das man später nicht nachholen kann. Eine Wunde, die man diesbezüglich in der Kindheit abbekommen hat, wird nicht mehr ganz verheilen, auch wenn sie nicht in jeder Lebenssituation spürbar werden muß.

In der Zuwendung der Eltern entwickelt sich also die Vertrauensfähigkeit des Menschen. Ist sie dann die Basis dafür, sich auch in Gott geborgen fühlen zu können?

Loley: Es entwickelt sich eine Persönlichkeitsstruktur, wie sie von Gott her gewollt ist. Das geschieht in den ersten drei, vier Jahren.

Das Kind braucht also die Erfahrung: Hier ist jemand, der mit meinen konkreten Nöten so umgeht, daß ich mich nicht zu fürchten brauche.

Loley: Das Gefühl der Geborgenheit ist ausschlaggebend. Das Kind erfährt in den Armen der Mutter, des Vaters, wie Gott ist. Aus dieser Urerfahrung entwickelt sich der ganze Mensch.

Sollte diese Urerfahrung im Leben nicht immer wieder erneuert werden? Sollte man Geborgenheit nicht nur aus dem nackten Glauben heraus erleben, sondern auch aus der Zuwendung der Mitmenschen?

Loley: Das, was im Menschen zu leben begonnen hat, muß immer wieder genährt werden. Daher ist die ständige weitere Zuwendung so notwendig. Man kann nicht ein Leben lang von der Grunderfahrung der Geborgenheit zehren. So wie ich ständig auf Atmung und Nahrung angewiesen bin, bedarf ich auch der Bestärkung auf diesem Gebiet.

Du hast sicher auch Ängste erlebt. War es letztlich die Erfahrung, in Gott geborgen zu sein, die Dir geholfen hat, mit Angst umzugehen?

Loley: Wenn ich sehr viel schützende Zuwendung erlebe und erlebt habe, dann werde ich in der Angstlosigkeit befestigt. Das hat mir die Erfahrung vor dem Briefbomben-Attentat bestätigt. Damals habe ich schon in den Monaten davor zutiefst die Sicherheit geschenkt bekommen: “Ich laß' Dich nicht im Stich" - eine Zusicherung, die Gott Seinem Volk gibt (siehe Hebr 13,5). Mehr als ein halbes Jahr lang ist mir diese Botschaft unter die Haut gegangen. Immer tiefer, immer stärker. Ich wußte damals nicht, was auf mich zukommen würde. Warum werde ich so aufgebaut? Für mich war das die Erfahrung, unüberwindbar zu sein. Ich bin unbezwingbar - das war das tragende Gefühl, das ich vor dem Attentat hatte. Wäre das nur eine menschliche Suggestion, eine Illusion gewesen, so wäre sie in der akuten Notsituation dann zerbrochen.

Dich aber hat diese innere Sicherheit in der konkreten Situation durchgetragen?

Loley: Ja - und wie! Beim Aufwachen aus der Narkose war dies das erste, was mir ins Bewußtsein getreten ist. Es war der letzte Gedanke vor der Narkose und der erste danach. Ich war getragen ohne Unterbrechung. Das ist nichts Außergewöhnliches. Es ist Ausfluß dessen, daß Gott unser Vater ist. Es ist die Vatererfahrung.

Hat diese Erfahrung der Geborgenheit Dich bis heute durchgetragen, oder bedurftest Du nachher auch wieder der Bestärkung durch menschliche Zuwendung?

Loley: Es war ein fortdauerndes Wunder, das aus diesem Attentat entwachsen ist: Wie nie zuvor im Leben habe ich erlebt, daß sich alles zum Guten wenden kann. Alles Negative wendet sich zum Guten. Aus dem Zerstörungsakt ist ein Kette von Lebensakten geworden. Ich habe danach eine ununterbrochene Erfahrung von Zuwendung gemacht. Der Kardinal hat mich im Priesterseminar aufgenommen. Und dort haben mich die Seminaristen in einer überwältigenden Art angenommen.

Christen können also diesem Zuruf Christi: “Fürchtet euch nicht!" auch deswegen folgen, weil sie bei Ihm die Erfahrung machen, daß sich aus allem was geschieht, auch aus dem Negativen, Heilswege eröffnen.

Loley: Ja. Was habe ich nach dem Attentat an neuen Freunden gewonnen!

Manche erleben aber, daß alles immer auswegloser wird...

Loley: Vielen fehlt leider der Glaube, eine Gnade, die wir ihn in uns aufsteigen, groß werden lassen müssen. Nur lassen viele das nicht zu.

In letzter Konsequenz also: Ohne Glaube werden wir in der Angst verharren...

Loley: Ich kann mich nicht vor dem Erfrieren bewahren, wenn ich nicht an die Existenz der Sonne glaube und mich in ihre wärmenden Strahlen begebe.

Das Gespräch führten Alexa und Christof Gaspari.

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