VISION 20001/2004
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Pflege das Leben, wo Du es antriffst!

Artikel drucken Über die Ausbreitung der Kultur des Lebens im Alltag

Heute geht es vielfach um eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod: bei der Abtreibung, der künstlichen Befruchtung, der Organtransplantation... Fallen an dieser Front die Entscheidungen oder schon früher?

Maria Loley: Wir müssen uns immer wieder bewußt machen, daß wir das Leben - das Leben im anderen - nur ja nicht verletzen dürfen. Ja, mehr noch. Es geht darum, daß ich dem anderen gebe, was ihn aufbaut. Insbesondere ist das Ermutigung und Freude. Für mich ist das Wort der heiligen Hildegard von Bingen: “Pflege das Leben, wo du es triffst!" zur großen Herausforderung geworden. Das Leben zu pflegen - nicht nur beim Säugling, sondern bei jedem Menschen, in jeder menschlichen Begegnung.

Wenn Du vom Pflegen sprichst, was meinst Du damit?

Loley: All das beizutragen, was den anderen aufbaut. Dazu muß ich ihn überhaupt erst so wahrnehmen, wie er ist, in seiner einmaligen Persönlichkeit. Da reichen äußerliche Merkmale nicht (ist er arm oder reich, krank oder gesund...). Entscheidend ist wahrzunehmen: Wie fühlt sich mein Gegenüber? Ist er traurig? froh? zuversichtlich? hoffnungs- oder mutlos?

Die meisten menschlichen Begegnungen schaffen gar nicht so viel Raum, all das nur halbwegs mitzubekommen...

Loley: Das ist ein Irrtum. Die meisten Begegnungen ermöglichen das. Allerdings muß ich meine innere Sensibilität dafür geschärft haben. Vieles offenbart auch die flüchtige Begegnung.

Ist es nicht etwas überzogen zu meinen, man könne andere schon in flüchtigen Begegnungen aufbauen?

Loley: Daß das geht, merke ich hier im Heim am deutlichsten. Was ich da allein schon durch einen freundlichen Blick an Echo bekomme! Die Leute hier sind schon dankbar, daß man sie überhaupt anschaut. Den anderen anschauen - Aug in Aug. Solche Blicke sind auch in der flüchtigen Begegnung möglich. Wenn ich daran denke, wieviele solche Augen-Blicke allein mir bereits Unglaubliches vermittelt haben!

Darüber sollten wir ausführlicher reden. Denn die meisten von uns haben viele flüchtige Kontakte im Alltag. Sollte also jeder einen strahlenden Blick aufsetzen, um die anderen aufzubauen?

Loley: Mit dem Strahlen bin ich eher vorsichtig. Wenn ich es selbst “produziere", wird es nicht unbedingt etwas bringen. Worum es geht: Ich muß in einer Haltung leben, die den anderen mit dem Herzen bejaht. Das geschieht, wenn ich den anderen wertschätze. Dann kann Gott in meinen Blick das hineinlegen, was Er will, was den anderen aufbaut.

Wie äußert sich so eine Haltung in der U-Bahn?

Loley: Die Begegnung, die ich meine, vollzieht sich nicht nur von mir zum anderen hin. Auch die anderen sehen mich ja. Wer nun diese Wertschätzung für die Mitmenschen in seinem Herzen trägt, von dem geht etwas von dieser Bejahung auf den anderen über. Der andere sieht mich, nicht weil ich so toll bin, sondern er sieht etwas, was ihn berührt, ermutigt, ihm wohltut - durch mich hindurch. Da geschieht etwas, was ich nicht bewußt als Tat setze. Worum ich mich bewußt bemühe, das ist die Wertschätzung der Einmaligkeit meines jeweiligen Gegenübers. “Pflege das Leben, wo du es antriffst!" Ich pflege es auch im Vorbeigehen. Gerade Menschen hier im Haus, die am schlechtesten beisammen sind, sagen, die Freundlichkeit tut ihnen gut. Warum betont Paulus dem Titus gegenüber: Erschienen ist uns die Güte und die Menschenfreundlichkeit unseres Gottes?

Es geht also darum, in mir eine positive Grundhaltung dem anderen gegenüber zu pflegen.

Loley: Es geht allerdings nicht um die eigene Perfektionierung. Wohl aber trage ich Verantwortung für das Leben Gottes in mir. Wo Gott Menschen mit einem leeren Herzen, wo Er einen Armen findet, dort kann Er Wohnung nehmen. Wenn Er in meiner Armut Wohnung genommen hat, bin ich dafür verantwortlich, daß Er beachtet und geliebt wird. Wende ich mich Ihm zu, wird Er in mir auch wirksam. Aber nicht, weil ich etwas Großartiges tue, sondern weil ich nichts tue und alles von Ihm erwarte. Dann ist schon ein einfacher Blick, den ich dem anderen schenke, von Gott gesegnet.

Besteht also unsere primäre Verantwortung für das Leben darin, daß wir Jesus Christus, der das Leben ist, in uns groß werden lassen?

Loley: Ja, Ihn in uns wohnen und leben zu lassen. Dazu bin ich als Getaufte berufen.

Wäre das also der entscheidende Beitrag im Kampf für das Leben in unseren Tagen?

Loley: Ja, es geht nur so. Alles andere wird sicher auch einiges bewirken, aber letztlich nur insoweit, als es vom Leben des unsichtbaren Gottes erfüllt ist. Eine maßgebliche Erkenntnis für mich ist: Jede Begegnung, die den anderen wertschätzend annimmt, wird von Gott mit Seiner Liebe erfüllt. Daher wirkt Gott auch durch viele, die nicht getauft sind. Ich habe das oft erlebt.

Egal, ob sie Christen sind oder nicht?

Loley: Wo jemand selbstlos um des anderen willen handelt, offenbart sich Gott. Wer liebt, ist ein Weg Gottes zum Menschen, jeder, der sich selbstlos dem anderen zuwendet - und sei es nur für einen Augenblick. Wer Gott im Sakrament, in der Heiligen Schrift aufnimmt, bietet Gott einen viel unmittelbareren Zugang zum nächsten. Wenn Jesus davon spricht, wie der Mensch am Ende beurteilt wird, fragt Er nicht nach der Konfession, sondern danach, ob er den Hungrigen, Durstigen Kranken, Hilfsbedürftigen zu Hilfe gekommen ist.

So gesehen, ist der Kampf, der heute um das Leben geführt wird, im Grunde genommen ein Kampf um die Gegenwart Gottes im Menschen.

Loley: Es zeigt sich, daß wir uns in einem Spannungsfeld befinden, wo der Kampf sich direkt gegen das Leben richtet, ob Gott dabei genannt wird oder nicht. Das Leben im Mitmenschen wird angegriffen von einem, der die Vernichtung in Person ist. In jeder Verletzung, jeder Kränkung, jeder Entmutigung, jeder Verneinung, die ich dem anderen zufüge, geschieht dieses Werk der Vernichtung. Jedesmal, wenn ich jemanden für dumm erachte, geschieht dies. Man lese in der Bergpredigt nach: Wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du (gottloser) Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein. (Mt 5,22) Wer dem anderen das Geliebtwerden von Gott abspricht, hat also eine furchtbare Strafe zu erwarten, wenn er sich nicht bekehrt. Und: Jemandem zu sagen: Du Taugenichts! - das hat schreckliche Folgen. Ich könnte das mit Fällen belegen, die zum Himmel schreien. Etwa, wenn ein Vater sein Kind entmutigt, zu einem Taugenichts stempelt. Das ist tödlich. Ich kenne Fälle, wo das mit Selbstmord geendet hat.

Auch scheinbar unbedeutende Handlungen kommen also aus der Kultur des Todes...

Dahinter steckt das Wirken des Bösen, desjenigen, der persönlich der Töter ist. Zunächst tötet er das Leben, die liebevolle Zuwendung in uns und dann vollbringen wir seine Werke. Pflege also das Leben, wo du es triffst. Gib, gib... Solange wir geben, zerstören wir nicht.

Klingt so, als wäre Geben ein Allheilmittel.

Loley: Geben - aber wie der Geist uns bewegt. Der Geist läßt uns ins Auge fassen, was dem anderen wirklich fehlt. Es geht nicht darum, daß ich gebe, um mich zu produzieren. Vielmehr müssen wir herausfinden: Was hat der andere nötig? Um das herauszufinden, muß ich horchen lernen, ohne mich dabei wichtig zu nehmen. Ich muß Zeit haben. Wenn ich mir diese Zeit nicht nehme, habe ich Wichtiges versäumt. Wir müssen lernen, nicht immer sofort Aktivitäten zu setzen, sondern wirklich hören, was der andere sagt.

Gegen den Aktivismus zu plädieren, widerspricht allerdings stark dem heutigen Zugang.

Loley: Zuerst muß ich draufkommen, was der andere braucht. Wenn ich im voraus plane: der bekommt ein Gewand, jener ein Geld, dem dritten sage ich, wo es langgeht - dann geht der andere ärmer weg, als er gekommen ist. Geduld zu haben und zu warten, wo wirklich die Not ist, wie es dem anderen wirklich geht, das ist heute so rar geworden, daß man verzagen könnte. Dafür meinen die meisten, keine Zeit zu haben.

Kommen wir auf das Thema Freude zurück, von dem Du zuerst gesprochen hast.

Loley: Wenn ich nicht selbst von Freude erfüllt bin, kann ich sie auch nicht weitergeben. Wenn ich aufgrund der Situation, in der ich mich befinde, nicht in Freude ausbrechen kann, dann sehe ich nur mit irdischen Augen. Ich sollte aber bedenken, daß Jesus knapp vor Seiner Verhaftung, als Er all das Schreckliche vor Augen hatte, was in den nächsten Stunden auf Ihn zukommen würde, wiederholt von der Freude gesprochen hat. Und Paulus schreibt aus dem Gefängnis: Freut euch im Herrn zu jeder Zeit. Noch einmal sage ich: Freut euch! Der Herr ist nahe (Phil 4,4). Und: Laßt alle Menschen eure Güte erfahren. Die Güte ist die milde Form der Freude. Sie pflegt das Leben, wo es anzutreffen ist. Wir müssen uns fragen: Wie rede ich mit dem anderen? In einem Ton, der ausdrückt: du bist eigentlich ein Dummkopf? Dann wird der Ton von meiner Einstellung verdorben sein, auch wenn ich ausdrücklich nichts Abwertendes sage. Was soll Gott mit einer Zuwendung anfangen, die den anderen für blöd erachtet? Das ist eine der häufigsten Formen zerstörerischer Begegnung: Man erhebt sich innerlich über den anderen. Das ist ein enormes Unrecht.

Wie heilt man den eigenen Blick?

Loley: Selber kann man das nicht. Ich kann mich nur Gott hingeben, damit Er in mir wirksam wird, in meinem Tun und Lassen, in meinem Sein. Dann formt Sein Geist in mir all das aus, worauf es ankommt. Er hat uns ja gesagt, daß der Geist uns alles lehren wird. Er wird uns erinnern, was Er, Jesus, uns gesagt hat. Und wenn ich mich an Jesus erinnere, so ist Sein Geist in mir wirksam. Er sucht nicht die Großartigkeiten in uns, sondern die Armut. Wenn ich mich im gesunden Bewußtsein meiner Armut für den Geist öffne, bin ich offen für das Empfangen des Lebens, das über mich auf den anderen übergehen kann. Das sollte sich pausenlos in mir ereignen, wenn ich anderen begegne.

Das Gespräch führte Christof Gaspari.

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