VISION 20003/2008
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Voll Wahrheit und Erbarmen

Artikel drucken Wem Gottes Barmherzigkeit begegnet, der kann seine Armseligkeit anschauen (Von Kardinal Christoph Schönborn)

Leider gibt es immer noch die schlimme Vorstellung, der Gott des Alten Testaments sei ein zorniger, der Gott des Neuen Testaments ein anderer, ein gütiger Gott. Ganz anders ist es in Wirklichkeit.

Das Alte Testament ist die große Schule der Barmherzigkeit Gottes. Gott offenbart sich dem Mose als “ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue" (Ex 34, 6).

Sein Zorn ist nur die Kehrseite Seiner leidenschaftlichen Liebe. Sein Zorn ist Ausdruck Seiner Sorge. Nicht Er braucht Sein Volk, sondern Sein Volk braucht Ihn. Wenn Sein Volk sich von Ihm abwendet, bringt das Unglück und Not. “Mich hat [das Volk] verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten" (Jer 2,13).

Die Liebe Gottes zu Seinem Volk ist unvorstellbar treu. Sie ist aber auch wahrhaftig. Seine Barmherzigkeit zeigt sich zuerst darin, daß sie die Wahrheit offenbart. Gibt es eine Religion, in der so schonungslos, so unerbittlich kritisch alle Fehler der eigenen Gemeinschaft gegeißelt werden?

Schonungslos werden die Fehler benannt, wird alles Versagen beim Namen genannt. Aber, vom König bis zu den einfachen Leuten, werden - scheinbar schonungslos - ihre Sünden vorgehalten. Gerade darin zeigt sich Gottes Barmherzigkeit. Sie kann nie ohne Wahrheit sein. Sie kann nur heilen, wenn sie ganz ehrlich und klar die Diagnose stellt.

Das Alte Testament zeigt großartig Gottes Erbarmen mit den Sünden des Volkes. Aber die Sünden werden nicht verharmlost, nicht bagatellisiert. Christus wird das zur Vollendung führen: Sein Erbarmen ist nie ohne die Wahrheit. Die Heuchler können kein Erbarmen finden, weil sie so tun, als bräuchten sie kein Erbarmen. Nur wo die Sünden beim Namen genannt werden, kann die Barmherzigkeit “greifen".

Umgekehrt ist es aber erst möglich, wirklich die eigene Armseligkeit anzuschauen, die eigenen Sünden zu sehen und zu bekennen, wenn uns Gottes Barmherzigkeit begegnet. Einem unbarmherzigen Richter gegenüber die eigene Schuld zu offenbaren, wäre gewissermaßen Selbstmord. Erst im Angesicht der Liebe Gottes, die die Sünde haßt, aber den Sünder liebt, ist es möglich, die eigene Sünde anzunehmen und zu bekennen.

Wie ein Kind, das etwas angestellt hat, kann der Sünder zu Gott laufen und sich in Seine barmherzigen Arme werfen. Das Vertrauen auf Gott, auf Jesus (“Jesus, ich vertraue dir") macht es erst möglich, die eigenen Sünden wirklich aus Liebe zu Gott zu bereuen.

Man wirft der Bibel und dem Christentum gerne vor, hier sei ständig die Rede von der Sünde. Es stimmt: Unsere Liturgie spricht viel von Sünde. Aber liegt das nicht auch daran, daß wir auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen? Weil wir glauben und vertrauen, daß Gott unendlich barmherzig ist, brauchen wir die Sünden nicht zu verleugnen, unsere Fehler nicht abzustreiten, uns ständig für unschuldig zu erklären. Nur so können wir verstehen, warum die großen Heiligen sich so sehr für Sünder hielten.Sie sahen im Licht der Barmherzigkeit Gottes, wie sehr sie noch Sünder sind, und wie tief die eigene Armseligkeit war. (...)

Das Alte Testament ist wirklich die große Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk, die Schule der Barmherzigkeit. Aber erst in Jesus Christus wird das ganze Ausmaß der Barmherzigkeit Gottes offenbar. Er ist Gottes Barmherzigkeit “in Person".

Den besten Beweis, daß der Gott des Alten Bundes der Barmherzige ist, liefert uns Jesus selber. Er nennt als “Kurzformel" für den Weg zur Heiligkeit einfach folgendes: “Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist" (Lk 6,36). Die Barmherzigkeit zu leben, heißt also, vollkommen zu sein, “wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5,48). Wie aber ist unser himmlischer Vater barmherzig?

Wissen wir das? Wie sollen wir das lesen? Wie soll es uns sozusagen “in Fleisch und Blut übergehen", sodaß wir spontan, aus innerstem Herzen heraus Gottes Barmherzigkeit kennen, in uns tragen und sie leben? Wie sollen wir arme sündige Menschen gerade in der Barmherzigkeit Gottes Vollkommenheit widerspiegeln?

Gott hat uns diesen Weg zu Seiner Vollkommenheit geoffenbart. Er hat Sein Volk durch das ganze Alte Testament darauf vorbereitet. Er hat seinem Volk, “als die Fülle der Zeit gekommen war, seinen Sohn gesandt" (Gal 4,4).

Jetzt können wir in einer menschlichen Gestalt Gottes Barmherzigkeit sehen. Und in der Gemeinschaft mit Jesus die Barmherzigkeit Seines Vaters lernen. Wir können in der Lebensgemeinschaft mit Jesus Seine Jünger, Seine Schüler werden. Er kann uns die Barmherzigkeit Seines Herzens zeigen. Mehr noch, sie uns einprägen. Uns formen nach Seinem Herzen. Das ist der neue Weg, den der Vater uns erschlossen hat. Wie sollten wir sonst Gottes Vollkommenheit kennenlernen, wenn wir sie nicht im menschlichen Antlitz Jesu schauen könnten?

Jesu Barmherzigkeit also ist unser Weg, Gott ähnlich zu werden. So müssen wir Ihn bitten, uns Seine Barmherzigkeit zu zeigen. (...)

Was ist Barmherzigkeit? Ist es eine spontane, natürliche Reaktion auf die Not des Nächsten? Oder hat Jesus mit Seiner Barmherzigkeit eine neue Haltung vom Himmel auf die Erde gebracht? (...) Erbarmen ist eine grundmenschliche Haltung. Nicht umsonst setzen wir Unbarmherzigkeit mit Unmenschlichkeit gleich. Wer bei der Begegnung mit Leid Mit-leid empfindet, verhält sich als echter Mensch. Wer über Leid spottet, verhält sich unmenschlich. Insofern hat Jesu Erbarmen auch einfach menschliche Züge. In der Schule Jesu lernen wir die einfachen Tugenden des Menschseins.

Wir sollten also barmherzig sein, um wirklich menschlich zu sein. Etwas in mir protestiert: ich kann doch nicht zu allen Menschen barmherzig sein! Und ist Barmherzigkeit nicht doch etwas “von oben herab"?

Brauchen wir nicht eher Gerechtigkeit als Barmherzigkeit? In meiner Jugend - ich gehöre zur so genannten 68er Generation - war das ein großes Thema: Strukturen ändern, nicht da und dort ein wenig Barmherzigkeit. Das war die Versuchung des Marxismus: die Gesellschaft muß radikal geändert werden.

Einzelne Werke der Barmherzigkeit zementieren nur die ungerechten Strukturen, so wurde damals behauptet. Die Frage ist schon bedrängend: Hat Jesus wirklich die Welt verändert? Warum gibt es nach wie vor Krieg, Hunger, Leid? Hat Jesus damals die Not beseitigt? Er hat einzelnen geholfen, aber hat das etwas gebracht? Jesus hat selber ganz provokant in Nazareth, seiner Heimat, darauf hingewiesen, daß auch früher schon, von den Propheten nur wenige geheilt wurden, und so war es auch bei Jesus (vgl. Lk 4,27).

Wir kennen dieses Dilemma: Barmherzigkeit in einzelnen Fällen - was hilft das schon den vielen anderen, die in derselben Lage sind? Sollen wir auf die Barmherzigkeit verzichten, weil sie eh nicht viel ausrichtet? Auf diese Frage hat Jesus mit dem Barmherzigkeitsgleichnis vom Samariter geantwortet: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen...". “Wer ist mein Nächster?" fragt ein Gesetzeslehrer, genau aus dieser Schwierigkeit heraus: Ich kann doch nicht alle Menschen lieben? Ich kann nicht mit allen barmherzig sein!

Doch darum geht es nicht. Barmherzigkeit ist nicht ein vages Gefühl der “Allerweltsliebe". Sie ist konkret. In Jesu Erzählung kommen ein Priester und ein Levit des Weges. Sie sehen den Halbtoten, Ausgeraubten, und wechseln die Straßenseite und gehen vorbei. Sie hatten vielleicht verständliche Gründe: zum Beispiel Angst, selber überfallen zu werden. Die Räuber konnten ja noch nahe gewesen sein.

Der Samariter tut, was menschlich ist: er ist von Mitleid tief bewegt. Er tut, was der Situation angemessen ist. Er unterbricht alle seine Reisepläne und Terminverpflichtungen und sorgt sich um den Schwerverletzten. “Wer von den dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?" Die Antwort ist unausweichlich: “Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat" (vgl. Lk 10,25-37).

Barmherzigkeit ist konkret. Sie betrifft nicht irgendwie alle, sondern den, der hier und jetzt meine Hilfe braucht. Aber wir brauchen doch alle Hilfe. Wir brauchen doch alle Erbarmen! Ja, gewiß! Aber wissen wir es schon? Glauben wir nicht sehr oft, daß wir keine Hilfe brauchen, und erst recht kein Erbarmen? Mir ist das besonders deutlich geworden in meiner Arbeit mit Suchtkranken, besonders Alkoholikern.

Sie behaupten oft, daß sie keine Hilfe brauchen: “Das schaffe ich selber!" Aber sie schaffen es nicht! Sie täuschen sich und versuchen, die anderen zu täuschen. Sie glauben, daß sie es verbergen können. Alle wissen schon von ihrer Alkoholsucht, aber sie glauben immer noch, daß sie es alleine schaffen. Wie soll da die Barmherzigkeit “greifen", wenn die Einsicht in die eigene Not fehlt?

Für mich ist die Suchtkrankheit ein Gleichnis für uns alle, die wir noch zu wenig auf Jesu Barmherzigkeit vertrauen. Jesus weiß, wie sehr wir sein Erbarmen brauchen. Wir sehen es oft noch nicht, noch zu wenig. Die Botschaft Jesu von der Barmherzigkeit seines Vaters wurde vielfach abgelehnt. Warum? Die Bibel hat darauf nur eine Antwort: wegen der Herzenshärte. Jeden Tag beginnen wir das kirchliche Stundengebet mit dem Psalm 95 “Kommt, laßt uns jubeln vor dem Herrn...". Jeden Tag bewegt mich der eine Vers aus diesem Psalm: “Ach, würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören! Verhärtet euer Herz nicht wie in Meriba, wie in der Wüste am Tag von Massa" (Ps 95, 7-8).

Herzensverhärtung ist das Gegenteil von Barmherzigkeit. Wie sehr müssen wir darum beten, daß unser Herz nicht “porös", verhärtet, versteinert wird! Es darf nicht abstumpfen und gefühllos werden! Denn genau das ist die Ursünde des Menschen Gott gegenüber, und dann immer auch gleich dem Nächsten gegenüber. Herzensverhärtung ist Abfall von Gott und Verlust der eignen Menschlichkeit.

Unsere Herzensverhärtung ist Ursache von soviel Leid unter uns Menschen. Sie ist auch die Ursache von Jesu Tod. Sie hat ihn ans Kreuz gebracht. Sie hat ihn gekreuzigt! Nur die Liebe Gottes, die bis ans Kreuz geht, kann unsere verhärteten Herzen aufbrechen. Seine Liebe zu uns hat er darin gezeigt, daß er sein Leben für seine Feinde hingab.

Nur dieses Übermaß an Barmherzigkeit mit denen, die ihn töten, kann die Herzen öffnen. Barmherzigkeit beginnt erst dort das volle Maß Christi zu erreichen, wo sie der Herzenshärte begegnet. Nur sie, die scheinbar ohnmächtige Barmherzigkeit, kann die Versteinerung der Herzen lösen. Das hat der rechte Schächer am Kreuz erfahren, und deshalb ist er der erste im Paradies: “Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein" (Lk 23,43). Das haben seither alle erfahren, die der gekreuzigten Liebe des Herrn begegnet sind. Im Angesicht des Kreuzes begreifen wir: Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht die Folge, sondern die Ursache unserer Barmherzigkeit. Nicht wir haben Gott “umgestimmt", sodaß Er mit uns nicht zornig, sondern barmherzig wäre.

Sein Erbarmen geht unserem Erbarmen voraus und macht es möglich. Deshalb wollen wir, deshalb dürfen wir “seine Barmherzigkeit in Ewigkeit preisen".

Auszug aus dem Vortrag zur Eröffnung des 1. Weltkongresses über die Göttliche Barmherzigkeit am 2.4.08 in derBasilica S. Giovanni.

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