VISION 20003/2008
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Im Licht der Güte Gottes

Artikel drucken Die Beichte läßt die Wahrheit der eigenen Existenz erkennen (Von Bischof Guy Bagnard)

Der heilige Pfarrer von Ars ist ein herausragender Zeuge für die Macht vergebender Liebe, die sich im Sakrament der Buße kundtut. Im folgenden einige Aspekte dieses wichtigen Dienstes.

Im Zuge seines Dienstes als Pfarrer hat die Zeit, die Jean-Marie Vianney im Laufe der Jahre im Beichtstuhl verbracht hat, enorm zugenommen. Man schätzt, daß er sich dort zwischen 13 und 18 Stunden pro Tag bei jedem Wetter, bei Hitze und Kälte aufgehalten hat. Während der letzten 25 Jahre seines Lebens machte er nur mehr diesen Dienst. “Es gibt wohl kaum einen Hirten, der sich so seiner Verantwortung bewußt und derart von dem Wunsch erfüllt war, seine Gläubigen der Sünde und der Lauheit zu entreißen." (Johannes Paul II.: Brief an die Priester zum Gründonnerstag 1986).

Wenn man Jean-Marie Vianney bei diesem Dienst der Barmherzigkeit beobachtet, verdient ein Faktor besonders hervorgehoben zu werden: Er wußte, wie enorm schwer es für den Sünder ist, sich aufzumachen, um Vergebung zu erlangen. Sein eigenes Gebrechen zur Kenntnis zu nehmen, ist schon eine Herausforderung. Sich von diesem aber freizumachen, ist viel schwieriger. Die natürliche Reaktion ist es, das auf später zu verschieben. 1.000 Gründe fallen einem ein, es auf morgen zu verschieben. Der Sohn im Gleichnis hat den letzten Moment, bis er fast verhungert war, abgewartet, um sich endlich auf den Heimweg zu machen.

Eines Tages hatte der Pfarrer von Ars - er besaß ja eine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens - einen merkwürdigen Einfall. Auf die Gefahr hin, seine Umgebung zu befremden und auf Unverständnis zu stoßen, ließ er seitlich in die Fassade der Pfarrkirche eine Tür brechen, eine so enge und unauffällige Türe, daß man sie auch heute noch kaum bemerkt. Wer sie aufstieß, stand umittelbar vor dem Beichtstuhl, der dort bewußt ganz nahe hingestellt worden war. (...)

Der Vorteil dieser neuen Einrichtung: Man konnte vollkommen inkognito beichten kommen! Hier konnten sich jene, die er die großen Sünder nannte, für die Barmherzigkeit öffnen. Wie einfühlsam von diesem Pfarrer, der erfaßt hatte, welche Anstrengung es kostet, in eine Kirche zurückzukehren, in die man vielleicht seit 30, 40 oder 50 Jahren nicht den Fuß gesetzt hatte! (...)

Sein Ruf als Beichtvater stand zweifellos in Beziehung zu seiner Heiligkeit. Nicht selten hörte man, daß die Leute von Ars die Dinge so sahen, wie es einer von ihnen ausgedrückt hat: “Wir sind nicht besser als die anderen, aber wir würden uns zu sehr schämen, ähnlichen Unfug zu treiben, wo wir so nahe bei einem Heiligen leben".

Abgesehen von diesem Ausstrahlen der Heiligkeit spielen noch andere Faktoren eine Rolle. Einer von ihnen ist jedenfalls nicht zu vernachlässigen: Der Pfarrer von Ars konnte in den Herzen lesen; er erfaßte intuitiv, was in den Gewissen vorging. Wir wissen natürlich nicht genau, was sich im Beichtstuhl zwischen dem Pfarrer und den Pönitenten abspielte. Diesbezüglich ist Vorsicht geboten. Aber während des Heiligsprechungsprozesses wurden viele Zeugnisse gesammelt und sie lassen erkennen, daß jene, die sich da vor dem Pfarrer niederknieten, sich plötzlich mit ihrem Leben konfrontiert sahen. Oft war es der Pfarrer, der dem Beichtenden das eine oder andere Vergehen aufdeckte.

Alfred Monnin, ein Geistlicher, einer seiner ersten Biographen, erzählt beispielsweise die Erfahrung eines Mannes: Er hatte ein schlimmes Leben geführt, war dann gebrechlich geworden und in der Hoffnung geheilt zu werden nach Ars gekommen. Nachdem ihm Freunde gut zugeredet hatten, beschloß er, beichten zu gehen. Jean-Marie Vianney hört ihm schweigend zu und fragt dann: “Ist das alles?" - “Ja," antwortet der Mann. Darauf der Pfarrer: “Aber sie haben nicht gesagt, daß Sie an jenem Tag dort und dort einen schweren Fehler begangen haben." Worauf der Pfarrer die Lebensgeschichte vor dem Mann ausbreitet, besser, als dieser es selbst vermocht hätte.

Ähnliche Fälle gibt es viele bei Jean-Marie Vianney, der oft die rituelle Frage stellte: “Wann haben Sie das letzte Mal gebeichtet?" Dann kam es vor, daß der Beichtende keine Ahnung hatte! Nicht selten geschah in dieser Situation, daß der Pfarrer selbst die Antwort gab: “28 Jahre ist es her, mein Freund. Und im Anschluß an diese Beichte waren Sie nicht bei der Kommunion."

Diese klare Sicht des Beichtvaters löste bei den Pönitenten einen mächtigen Schock aus. Ihnen erging es ähnlich wie der Samariterin im Evangelium. Sie hatte Jesus sagen gehört, daß sie keinen Mann habe. Jesus hatte ihr Leben aufgedeckt. Und nur kurz darauf teilt sie - ihre Gefühle nur schwer beherrschend - den Leuten ihres Dorfes mit: “Kommt, da ist ein Mann, der mir gesagt hat, was ich alles gemacht habe!"

Wer in Ars beichtete, hatte nicht den Eindruck, angeklagt oder verurteilt zu werden, sondern daß Gott selbst auf das Intimste seines Lebens blickte. Jeder Widerstand, alle Verteidigung schwanden dahin. In diesem Licht öffnete sich der Pönitent, ohne nach Entschuldigung, nach Ausflüchten zu suchen, ohne sich zu rechtfertigen. Plötzlich stand er vor Gott. Und Gott suchte ihn in den ganz konkreten Lebenslagen auf: Da begegnete er Ihm und da wurde er gerettet! In diesem Licht wurde der Beichtende zur existentiellen Wahrheit seines Wesens zurückgeführt. Daher wirkte die Gnade des Sakraments auch in intimsten Tiefen der Seele. Neuerschaffen verließ er den Beichtstuhl. Gott war dagewesen. Er hatte gehandelt! Der Pönitent hatte erfahren, daß Gott ihn so liebte, wie er war.

Eine der ersten Wirkungen der Barmherzigkeit: Man macht sich selbst nichts mehr vor und läßt es zu, daß Gott uns in aller Wahrheit betrachtet. In der Erfahrung dieses Lichts, das uns durchdringt, erfaßt man die grenzenlose Güte Gottes. Aus ihr schöpft man die Kraft zum Neubeginn, faßt man den Entschluß, das Leben zu ändern!

Durch seinen Dienst hat Jean-Marie Vianney klar gezeigt, daß die Barmherzigkeit Gottes in keiner Weise den Anspruch der Wahrheit einschränkt, die große mit ihr verbundene Anstrengung. Er verband beide im Gleichgewicht, das ihm seine Heiligkeit ermöglichte. Von der Barmherzigkeit verstand er wie kein anderer zu sprechen: “Wie gut ist doch Gott," pflegte er zu sagen, “Sein gutes Herz ist ein Ozean der Barmherzigkeit. Daher sollten wir, wie große Sünder wir auch immer sein mögen, niemals an unserem Heil verzweifeln. Es ist so leicht gerettet zu werden!" “Unsere Fehler sind wie Sandkörner im Vergleich zur Barmherzigkeit Gottes." “Was sind doch unsere Sünden, wenn wir sie mit der Barmherzigkeit Gottes vergleichen! Sie sind wie ein Kohlrübensamen vor einem Berg." “Gott läuft dem Menschen nach und führt ihn heim."

Der Autor ist Bischof von Belley-Ars, sein Beitrag ein Auszug aus seinem Vortrag am 3.4.08 in der Chiesa di San Carlo di Corso.

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