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Süchtig nach Pornographie

Artikel drucken Das Internet verleitet vor allem Männer

Durch das Internet haben sich die Möglichkeiten der Pornographie enorm erweitert. Manche Experten sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer „neuen sexuellen Revolution“.
Der Online-Zugang ist einfach, billig und anonym. Die Inhalte in Form von Fotos, Filmen, Texten, Chats zu zweit oder mit mehreren Personen sind meist perverser als bei gedruckter Pornographie. Nicht immer, aber leider sehr häufig verlangen die „User“ nach immer intensiveren Reizen und wechseln so von „Softporno“ über „Hardcore“ zu Gewalt- und schließlich Vergewaltigungspornos.
„Wir müssen neuere Studien zur Kenntnis nehmen, die zeigen, daß Personen mit häufigem Pornographiekonsum siebenmal so häufig sexuelle Aggressionen zeigen wie diejenigen, die nie Pornographie konsumierten. Ein kausaler Zusammenhang ist in beide Richtungen denkbar: Personen mit einer besonderen Bereitschaft für sexuelle Aggression konsumieren häufiger Pornographie – oder Pornographiekonsum fördert die sexuelle Aggressivität“, so der Wiener Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut Raphael Bonelli. „Neben Bildern und Filmen erlaubt das Medium auch sexuelle Begegnungen realer Personen, etwa im Cybersex oder Chat“. Diese Form der Kommunikation ermöglicht die gegenseitige Beeinflussung von Fantasien und realem Verhalten.
Virtuelle Identitäten ermöglichen zudem die leichte, schier unbegrenzte Vernetzung und anonyme Kontaktanbahnung zwischen Täter und Opfer bei der Pädophilie, dem Kindesmiß?brauch. „Kinderpornographie dürfte bis zu drei Prozent der Internetpornographie ausmachen, also etwa 100.000 Websites weltweit“, so Bonelli. Auch das niedrigere Risiko der Entdeckung illegaler Aktivitäten unterscheidet die Internetpornographie von der „herkömmlichen“.
Niemand steigt laut Bonelli auf der letzten Stufe ein. „Werden etwa Jugendliche durch Gleichaltrige eingeführt, empfinden sie die Inhalte zunächst als abstoßend, unmenschlich. Mit der Zeit erwacht jedoch das Interesse und sie sehen sich um, was es sonst noch gibt. Die Gewöhnung überwindet die Scheu, die bei gesunden Menschen anfangs noch einen natürlichen Schutzreflex bietet, und man greift zu Härterem.“ Wenn die Selbstkontrolle verschwindet und sich der Drang verselbständigt, werde das als Sucht bezeichnet. „Viele Männer können kaum mehr allein vor einem Computer sitzen, ohne auf einschlägigen Seiten zu suchen.“
Vorsichtigen Schätzungen zufolge gibt es etwa 400.000 Internet-Sexsüchtige in Deutschland und 40.000 in Österreich. Neun Zehntel davon sind Männer. Häufige Motive sind mangelnde sexuelle Befriedigung, Einsamkeit und fehlender Lebenssinn. Die Sucht verstärkt jedoch das Leiden. Laut einer Studie haben Nutzer von Erotik-Angeboten im Web alarmierend oft Depressionen, Angstgefühle und Streß. „Keiner ist stolz darauf, täglich stundenlang Online-Pornos zu konsumieren und viele leiden über Jahre in Anonymität“, so Bonelli. Obwohl es vor allem ein männliches Phänomen ist, sind auch immer mehr Frauen davon betroffen. „Häufig habe ich in meiner Praxis Frauen, die in die Krise fallen, weil sie ihre Männer dabei ertappt haben. Die meisten erleben das als massive Kränkung. Eine neuere Untersuchung ergab, daß 50 Prozent eine solche Entdeckung emotional mit einem realen Seitensprung gleichsetzen.“
Die wenig realistischen Vorbilder von stets potenten Männern und immer bereiten Frauen verstärken zudem oft die sexuelle Unzufriedenheit. „Sexualität ist eine menschliche Dimension, die sich bei exzessivem Ausleben ohne Gegenüber zunehmend verirrt. Der ständige Konsum von Pornographie läßt die Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität sinken. Viele Online-Sexsüchtige sind daher weniger aufmerksam für den Partner und das soziale Umfeld, die Beziehungsfähigkeit leidet. Denn statt mit anderen zu kommunizieren, kreisen sie im Leben zunehmend um sich selbst und um die eigene Befriedigung“, analysiert der Experte.
„Mit der eigenen Sexualität menschengemäß umzugehen, sie als Kommunikationsmittel einer ehelichen Beziehung zu gebrauchen, ist eine Errungenschaft der Kultur. Andernfalls – wenn das Hintanstellen der eigenen Befriedigung nicht erlernt wurde – beginnt der Mißbrauch anderer. Diesen Reifungsprozess lernt der Mensch in seiner Jugend. Wenn er da durch zu viel Bilder verwirrt wird, kann er vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Wir beobachten in der Praxis bei sexsüchtigen Männern oft eine ego?istische Abschätzigkeit gegenüber Frauen, die in erster Linie als Körper wahrgenommen werden. Die Beziehungsdimension wird ausgeklammert.“
Ist der Schritt zum Therapeuten geschafft, sind die Chancen auf Heilung groß. „Sich öffnen zu können, ist eine große Erleichterung. Meist geht dem ein jahrelanges Ringen voran, oft kombiniert mit dem Selbstbetrug, daß man da schon selber rauskommt. Als systemischer Psychotherapeut arbeite ich dann an der Beziehungsfähigkeit. Ich beobachte durchwegs ein schnelles Stabilisieren in der Therapie. Das anonyme Leiden vor dem erlösenden Schritt ist allerdings beträchtlich.“
Besonders anfällig für pornographische Inhalte des Internets sind Kinder. „Per Mausklick gibt es heute im Kinderzimmer Zugang zu brutalisierter Sexualität. Mit Recht wird sie schon „Generation Porn“ genannt. Welche Folgen das langfristig hat, ist kaum abzuschätzen“, so Bonelli.
Den Eltern rät der Psychotherapeut, den Computer allgemein zugänglich im Wohnzimmer zu plazieren, viel Austausch mit den Kindern zu pflegen und sie rechtzeitig aufzuklären, bevor sie sich die Informationen selbst besorgen. Filter vor Gewalt oder Pornos seien hilfreich, aber kein absoluter Schutz, da sie zu umgehen sind. „Die Therapie verwendet meist keine technischen Sperren, da der eigene Antrieb zum Aufhören wichtig ist“, so Bonelli.
„Prinzipiell sind religiöse Menschen resistenter gegen Suchtverhalten. Wir haben viele Studien der vergangenen 20 Jahre in der Hand, die ein geringeres Suchtpotential religiöser Menschen bestätigen. Das ist auch leicht nachvollziehbar. Im Fall der Internet-Sexsucht stimmt das prinzipiell auch. Die Kirche ist ja in diesem Punkt ganz klar. Hier zeigt sich wieder, daß eine dem Menschen gemäße Ethik ihn schützt, und nicht quält. Aber ich sehe auch viel mehr Scham bei denen, die religiös sind und in diese Falle getappt sind: Sie brauchen oft besonders lange, um Hilfe in Anspruch zu nehmen.“

Nicole Gaspari

Die Autorin ist Psychotherapeutin in Wien.
Ein Kongreß zum Thema findet am 24. April im Festsaal der "Gesellschaft der Ärzte" in Wien statt. Näheres siehe www.internetsexsucht.at

 

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