Es gibt sie die Nachfahren der Urkirche von Jerusalem: Es sind die relativ wenigen Christen, die heute noch im Heiligen Land leben,verstreut und leider aufgesplittert in eine große Anzahl von Konfessionen. Und es besteht die Gefahr, daß sie zerrieben werden zwischen der erdrückenden Mehrheit von Muslimen und Juden.
Es ist ganz wichtig zu wissen: Im Heiligen Land gibt es nicht nur Juden und Moslems – da leben auch Christen! Und diese sind in gewisser Weise auch besondere Christen. Nicht weil sie etwa bessere Menschen wären, wohl aber, weil sie Nachkommen jener christlichen Gemeinschaften sind, die Jesus Christus selber gegründet hat. Und diese Tatsache sollte alle Christen mit Stolz und Freude erfüllen. Wir sollten alle glücklich darüber sein, daß es heute, 2000 Jahre nach Christus noch Nachkommen der ersten, der Mutterkirche von Jerusalem gibt. Und das ist wichtig und wunderbar.
Das Heilige Land übt nicht nur deswegen eine Attraktivität auf die Christen aus , weil es hier die heiligen Stätten, die vielen geschichtsträchtigen Steine gibt. Nein, noch wichtiger sind die lebendigen Steine. Sie sind lebendige Zeugen der Gegenwart Christi, der aus unseren Häusern, unserer Kultur, unserer Art zu leben hervorgegangen ist.
Allerdings sind die heutigen Christen hier nicht Nachfahren der jüdischen Urkirche. Dieser jüdische Zweig der Kirche verschwand im 8. Jahrhundert. Bis dahin hatten wir eine Christenheit jüdischer Sprache und Kultur, die Nachkkommen der Familien von Joseph, der Apostel, der Jünger…
Schon zu Jesu Zeiten war die Kirche hier allerdings nicht ausschließlich jüdisch. Sei war schon damals universal, wahrhaft katholisch: viele Römer, Griechen, Aramäer, Araber, Philister, viele Menschen anderer Herkunft bekehrten sich zu Jesus Christus. Sie gehörten zur „Mutterkirche“ von Jerusalem. Diese Leute haben über die Jahrtausende hinweg hier im Land gelebt. Die meisten der heutigen Christen hier sind deren Nachfahren.
Wieviele Christen gibt es nun im Heiligen Land? In Israel sind es rund 130.000, 50.000 leben in Palästina und 250.000 in Jordanien. Übrigens ist auch unser Patriarch, Fouad Twal, jordanischer Abstammung, er kommt aus einem alten Volksstamm dort. Viele dieser jordanischen Christen sind 1948 bei der Entstehung des Staates Israel aus ihrer Heimat hier vertrieben worden und haben sich im nahegelegenen Nachbarland niedergelassen.
Somit leben also 450.000 Christen im Heiligen Land. Sie haben viel zu erdulden, zu erleiden, stellen sie doch eine verschwindende Minderheit zwischen zwei Mehrheitsbevölkerungsgruppen, den Juden und den Moslems, dar. Man bedenke: Hier leben mehr als 6 Millionen Juden und mehr als 11 Millionen Moslems. Beide Gruppen unterliegen sehr, sehr stark der Versuchung zum Extremismus– ich vermeide den Ausdruck, sie seien Extremisten.
Um überleben zu können, bemühen wir uns um den Dialog mit beiden Gruppen. Wir arbeiten, so gut es geht, mit ihnen zusammen. Sonst sind wir zum Untergang verurteilt.
Wir leiden also vor allem, weil es hier keinen Frieden gibt. Gott sei Dank können Sie ins Land kommen, weil wir derzeit weder Krieg noch Terrorismus haben. Aber das heißt nicht, daß wir im Frieden leben. Der Friede ist weit weg: Es gibt keine Gerechtigkeit, die Grundlage allen Friedens ist. Solange es keine gerechte Lösung für die Palästinenser gibt, wird es hier auch keinen Frieden geben. Wir leben in einer sehr labilen Situation: Extremismus, Fanatismus, Spaltung – eine Unzahl von Gefahren.
Unter all dem leiden zwar alle Menschen hier – aber wir Christen sind, als kleine Minderheit, in besonderer Weise betroffen. Daher bedürfen wir so sehr Eurer Gebete, Eurer Aufmerksamkeit, Eurer Liebe. Denn wir sind eigentlich Eure „Mutterkirche“. Ihr seid ursprünglich alle aus der Jerusalemer Kirche hervorgegangen. Die Apostel, die sich aufmachten, anderswo Kirchen zu gründen, kamen von Jerusalem. Bitte, vergeßt Eure Mutter nicht!
Auszug aus der Ansprache des Bischofsvikars des Patriarchen mit Sitz in Nazareth im Rahmen der Wallfahrt.