VISION 20003/2011
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Wenn die Moral ihr Fundament verliert

Artikel drucken Ein Appell, Zeugnis für die Wahrheit zu geben (Chantal Delsol; Marie-Catherine d’Hausen)


Die größte Gefahr für unsere Gesellschaft rühre von der Idee, es gäbe keine Wahrheit, so die Philosophin Chantal Delsol. Dann wird nämlich alles mög?lich. Was heute gilt, wird morgen verdammt. Es drohe die Zerstörung unserer Errungenschaften.

Ihr Buch trägt den Titel „Âge du renoncement“ („Zeitalter des Verzichts“). Was ist das Thema des Werks?

Chantal Delsol: Heute tritt die Religion, die mehr als 2000 Jahre den alten Kontinent mit Blut versorgt hat, in den Hintergrund. Damit nehmen wir Abstand von allem, was die Architektur unserer westlichen Kultur ausgemacht hat – nicht um, wie manche meinen, zum Nihilismus, sondern zu einem vorchristlichen Heidentum und zu Weisheiten zurückzukehren, die es heute noch überall außerhalb des Westens gibt.


Klingt das nicht nach einer etwas hoffnungslosen These?
Delsol: Nein. Es ist eine Feststellung. Ich mache keinerlei Prognose, ich beschreibe eine Situation. Die Menschen heute wissen nicht recht, warum sie zur Welt gekommen sind und wofür sie sterben werden. Vor allem aber: Sie versuchen auch gar nicht, es herauszufinden, weil sie meinen, daß es da ohnedies keine Antworten gebe. Im Grunde genommen erscheint es ihnen gleichgültig. Sie leben auch ohne Religion sehr gut! Dabei erkennen sie nicht, was sie alles verlieren werden, nämlich die Früchte unserer westlichen Zivilisation: etwa die Idee der Wahrheit, der Königsherrschaft des Menschen, der persönlichen Freiheit, der Demokratie, die Idee des Fortschritts – kurz alles, dessen Basis direkt oder indirekt die Religion ist… Da ich gläubig bin, will ich darauf hinweisen.


Wie äußert sich diese Rückkehr zu den erwähnten Weisheiten, zum Heidentum?

Delsol: Auf vielerlei Art: in einem Synkretismus, Menschen, die gleichzeitig mehreren Religionen anhangen, dem Stoizismus, dem Epikurismus, dem Pantheismus… In unserer Gesellschaft gibt es Keime des Pantheismus – etwa das, was man „ozeanisches Gefühl“ nennt, die Erfahrung des Einswerdens mit der Welt. Indem sie uns ihre Weisheiten vermittelt, übt die asiatische Welt, die einen ganz anderen Weg hinter sich hat als wir, heute einen großen Einfluß auf unsere Geisteshaltung aus. Das beweist die große Zahl von Leuten, die Buddhisten oder Taoisten werden… Der Einfluß des New Age ist auch eine Art Rückkehr zu diesen Weisheiten.
Können Sie etwas näher erläutern, worauf wir verzichten, wenn wir die Religion aufgeben?
Delsol: Wir geben das Wesentliche auf. Vor allem die Idee der Wahrheit. Sie wurde von den Griechen vorbereitet (Parmenides, Platon…), hat aber durch die transzendente Offenbarung an Juden und Christen (Offenbarung Gottes an Moses am Sinai, Auferstehung Christi) erst richtig Gestalt angenommen. Das hat zu einer radikalen Veränderung am Beginn der jüdisch-christlichen Zivilisation geführt. Wo es nämlich keine Religion gibt, wird die Moral monopolisiert. Denn alle Zivilisationen, mit und ohne Religion, haben eine Moral. Unsere Gesellschaft ist durchwirkt von Moral.


Aber welche Moral?
Delsol: In einer Gesellschaft, in der es keine religiösen Grundwahrheiten gibt, ist die Moral instabil, weil sie sich nicht auf Prinzipien stützt. Sie unterliegt daher dem Nützlichkeitsdenken, da sie ja im Dienst des individuellen oder gesellschaftlichen Wohlbefindens steht. Wird es für die Menschen „nützlicher“ oder „besser“ Euthanasie zu praktizieren, wird man dies auch tun. Obwohl wir auf Grundkonzepte verzichten, bewahren wir dennoch einige Überreste davon… Die Menschenwürde zum Beispiel ist uns weiterhin ein Anliegen, vor allem nach den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Da es aber keine Wahrheit mehr gibt, auf der diese Würde basiert, wird sie zu einem Mythos – zu einer Geschichte, einem nicht mehr fundierten Glauben, der sich zu einer Tradition entwickelt.
Dieser unstete, entwurzelte moralische Mythos verändert sich dann je nach unseren Wünschen, durchaus im Gegensatz zur Moral von einst. Diese konnte sich noch auf einen Glauben, der als Referenz diente, abstützen. So griff etwa Las Casas im 16. Jahrhundert auf das Evangelium zurück, um die Versklavung der Indianer zu verwerfen. Heute können sich die Zeitgenossen auf nichts stützen, um die Euthanasie zurückzuweisen.

Ist die Menschenwürde eine Frucht des Christentums?
Delsol: Das ist offenkundig und hängt mit der Entfaltung der Idee von der Person zusammen: Gott, der Person ist, erschafft den Menschen als Person „als sein Abbild“. Das macht die Würde des Menschen aus. Zugegeben, bei den Griechen gab es Ansätze zum Konzept der Person, aber nur embryonale.


Geht uns das Konzept vom Fortschritt verloren?
Delsol: Was das anbelangt, gibt es einen starken Bruch (…) Mitte der 70er Jahre. In unseren Ländern glaubten wir damals, uns von Armut befreien und allen Bildung vermitteln zu können, um zwei Motive zu nennen. Trotz aller Anstrengungen tritt die Armut auf unseren Straßen offen zutage und 20% der Jugendlichen sind leseunkundig. Die tatsächlichen Fortschritte haben nämlich unerwartete, perverse Effekte erzeugt. Noch ein Beispiel: Wir werden heute 80 bis 85 Jahre alt, was gut ist. Dabei entstand aber gleichzeitig eine Bevölkerung von Alten ohne jede Perspektive mit Rekordwerten bei Depressionen und Selbstmorden, weil sie einsam sind. Die Leute merken langsam, daß es aufgrund von Sachzwängen zu nicht gewollten Rückschlägen kommt. Und die Vorstellung macht sich breit, daß der Fortschritt nicht mehr funktioniert.
(…)
Was wäre da im Hinblick auf eine Änderung nötig?
Delsol: Die Hoffnung müßte wieder erwachen. Es gilt, wieder an Wahrheiten zu glauben – die jedoch nicht in Fanatismus ausarten dürfen. Das geschieht allerdings nicht von selbst. Weil unsere Gesellschaft zu viele pervertierte Wahrheiten erlebt hat (Religionskriege, ideologisch mo?tivierte Kriege…), leidet sie in dieser Frage unter einer gewissen Ermattung. Ohne Intoleranz Zeugnis von der Wahrheit zu geben, ist das einzige, was uns noch helfen kann.

Chantal Delsol ist Professor für Philosophie, Autorin des Buches „L’Âge du Renoncement“ (Cerf, 304 Seiten, 22 Euro). Das Gespräch mit ihr führte Marie-Catherine d’Hausen für „Famille Chrétienne“ v. 26.3.11

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