VISION 20003/2011
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Menschliches Leiden ist nicht absurd

Artikel drucken Im Angesicht der Katastrophen nicht in betretenes Schweigen verfallen (P. Raniero Cantalamessa OFMCap)

Wie können wir den Mut aufbringen, von Gottes Liebe zu sprechen, während wir die vielen menschlichen Tragödien vor Augen haben, wie die niederschmetternde Katastrophe in Japan? Überhaupt nicht mehr darüber sprechen?

Aber darüber im Schweigen zu verharren würde bedeuten, den Glauben zu verraten und den Sinn des Mysteriums, das wir gerade feiern, zu ignorieren. Es ist eine Wahrheit, am Karfreitag laut stark zu verkünden. Derjenige, den wir am Kreuz betrachten, ist eigentlich Gott „in persona“. (…) Bis man nicht das für den christlichen Glauben grundlegende Dogma – die erste dogmatische Definition des Konzils von Nicäa –, daß Jesus Christus der Sohn Gottes, Gott selbst und aus derselben Substanz wie der Vater ist, erkennt und ernst nimmt, bleibt der menschliche Schmerz ohne Antwort.
Man kann nicht sagen, daß (…) auch der christliche Glaube keine Antwort auf den menschlichen Schmerz geben könne, wenn man im voraus die Antwort ablehnt, die er darauf zu geben hat. Was kann man tun, um jemanden zu überzeugen, daß ein bestimmtes Getränk kein Gift enthält? Man muß als erster davon trinken, vor dem anderen!
So hat Gott an den Menschen gehandelt. Er selbst hat den bitteren Kelch des Leidens getrunken. Er kann also nicht vergiftet sein, der menschliche Schmerz, er kann nicht nur schlecht, ein Verlust oder absurd sein, wenn Gott selbst beschlossen hat, davon zu kosten. Am Grunde des Kelches muß eine Perle verborgen sein.
Den Namen dieser Perle kennen wir: Auferstehung! „Ich bin überzeugt, daß die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“ (Röm 8, 18); und in Anlehnung dazu: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21, 4).
Wenn der Lauf des Lebens hienieden beendet wäre, könnte man wirklich verzweifeln an dem Gedanken an die Millionen und vielleicht Milliarden benachteiligten Menschen, die von Anfang an durch Armut und Unterentwicklung an die Startlinie genagelt bleiben, ohne jemals Gelegenheit gehabt zu haben, am „Rennen“ teilzunehmen. Und das, während sich die Wenigen jeden Luxus erlauben und einfach nicht wissen, wie sie die extravaganten Summen, die sie verdienen, ausgeben sollen.
Aber so ist es nicht. Der Tod gleicht Differenzen nicht nur aus, sondern kehrt sie auch um. „Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß“ (Lk 16, 22–23). Wir können dieses Schema nun nicht einfach übertragen auf die gesellschaftliche Realität, aber es ermahnt uns, daß der Glaube an die Auferstehung niemanden in seiner ruhigen Existenz verharren läßt. Wir werden daran erinnert, daß die Maxime „leben und leben lassen“ sich niemals in die Maxime „leben und sterben lassen“ verwandeln darf.
Die Antwort des Kreuzes richtet sich nicht nur an die Christen, sondern an alle, da der Sohn Got?tes für jeden einzelnen Menschen gestorben ist. (…) „Wir müssen festhalten – so heißt es in einem Text des 2. Vatikanischen Konzils–, daß der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.“
Eine der Arten, am österlichen Mysterium teilzuhaben, ist sicher das Leiden: „Leiden – schrieb Johannes Paul II. nach dem Attentat auf ihn und während des darauf folgenden Krankenhausaufenthaltes – bedeutet, besonders empfindsam und sensibel für die Werke der rettenden Kraft Gottes zu werden, die in der Menschwerdung Christi offenbar wurde“.
Das Leiden, jedes Leiden, aber besonders das der Unschuldigen, bringt uns auf wunderbare Weise, „und nur Gott allein bekannt“ mit dem Kreuz Christi in Kontakt.
In der Zeit nach Christus sind diejenigen, die „gutes Zeugnis abgelegt“ und „den Kelch getrunken haben“, die Märtyrer! Anfangs wurden die Berichte von ihrem Sterben als „Passion“ bezeichnet, Passionen von der Art der Leiden Jesu, von denen wir gerade noch gehört haben. (…) Die ersten Christen verehrten ihre Märtyrer. Die Taten ihrer Märtyrer wurden sowohl gelesen als auch zwischen den Kirchen mit großer Ehrfurcht verbreitet.
(…) Auch die Welt beugt das Knie vor den modernen Zeugnissen des Glaubens. Wie kann man nicht in Bewunderung verfallen, wenn man die Worte des politisch aktiven, katholischen Mannes, Shahbaz Bhatti, liest, der letzten Monat um seines Glaubens willen hingerichtet wurde? Er hat sein Zeugnis auch uns hinterlassen, seinen Brüdern im Glauben, und es wäre undankbar, es einfach in Vergessenheit geraten zu lassen.
„Mir sind vom Staat andere Ämter angeboten worden“, schreibt er, „und ich bin gebeten worden, meinen Kampf aufzugeben; aber ich habe immer abgelehnt, sogar vor dem Hintergrund, mein eigenes Leben zu riskieren. Ich habe nicht Popularität im Sinn, auch möchte ich keine Machtposition innehaben. Ich möchte nur einen Sitz zu Füßen Jesu. Ich möchte, daß mein Leben, mein Charakter und meine Taten für mich sprechen und zeigen, daß ich Jesus Christus folge. Dieser Wunsch ist so stark in mir, daß ich mich für privilegiert halten sollte, falls, in meiner Bemühung und in meinem Kampf, den Bedürftigen, Armen und verfolgten Christen meines Landes zu helfen, Jesus das Opfer meines Lebens annähme. Ich möchte für Jesus leben und für ihn möchte ich sterben.“
(…) Wie wir gesehen haben, sind die christlichen Märtyrer nicht die einzigen, die um uns herum sterben und leiden. Was können wir aber dem, der nicht glaubt, anderes anbieten als unsere Sicherheit im Glauben, die eine Erlösung von den Schmerzen bedeutet?

Aus der Predigt bei der Karfreitagsliturgie im Petersdom von P. Cantalamessa, dem päpstlichen Prediger.

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