VISION 20003/2011
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Von Festen, Unis, Wallfahrten...

Artikel drucken Über 1000 Jahre Bau an der Kultur Europas (Walter Brandmüller)

In seinem kirchengeschichtlichen Buch Licht und Schatten geht der Autor unter anderem auf die wichtige Rolle ein, die die Kirche bei der Integration Euro?pas im Mittelalter gespielt hat. Im folgenden einige Passagen aus dem lesenswerten Buch:
Das kanonische Recht war ein Integrationsfaktor ersten Ranges für das sich formierende Europa. Aufs engste hing damit das kirchliche Gerichtswesen zusammen, dessen Instanzenzug vom örtlichen Gericht über das des Metropoliten bis an die Sacra Romana Rota bzw. die Signatura Apostolica, die beiden letztinstanzlich urteilenden päpstlichen Tribunalien, führte. Dadurch, daß gerade die letzteren von lokalen und territorialen Gewalten unabhängig und unbeeinflußt urteilten, war durch die päpstlichen Gerichte ein Höchstmaß an Rechtssicherheit garantiert. Mochte darum auch der päpstlichen Kurie, namentlich jener des späteren Mittelalters, der schlechte Ruf anhangen, man könne dort für Geld alles haben, so erfreuten sich doch die päpstlichen Gerichtshöfe höchsten Ansehens, und ihre Urteile wurden von Reykjavik bis Catania respektiert.

Als Integrationsforum par excellence erscheinen die von den Päpsten einberufenen und von ihnen bzw. ihren Legaten geleiteten Allgemeinen oder Ökumenischen Konzilien. (…) Der Umstand, daß in der mittelalterlichen Christianitas kirchlicher und weltlicher Bereich sich gegenseitig durchdrangen, führte auch dazu, daß Könige und Fürsten auf Konzilien anwesend oder vertreten waren und, obgleich ohne Stimmrecht, nicht geringen Einfluß ausübten. (…) Was es bedeutete, daß da nun Konzilsteilnehmer aus allen Ländern in großer Zahl für lange Zeit, ja sogar jahrelang, auf engem Raum sich tagtäglich begegneten, ist nicht schwer zu ermessen. Es war die intellektuelle, kulturelle, religiöse, auch die politische Elite Europas, der durch die gemeinsame Konzilsteilnahme ein Forum seltener Art für den Austausch von Ideen, Erkenntnissen, Erfahrungen geboten war. (…)
Auf diese Weise wurde – wegen mancherlei Widerstände freilich nicht immer und überall in gleicher Weise – das kirchliche und vielfältig auch das bürgerliche Leben in ganz Europa weithin einheitlich ausgerichtet.

Die Universität ist die legitime Tochter der Kirche. Als in einem chronologisch und geographisch nicht einheitlich verlaufenden Prozeß aus dem Zusammenschluß von Schulen, die der Ausbildung von Klerikern, Notaren bzw. Richtern und Ärzten gedient hatten, sich Ende des 12. Jahrhunderts die „Studia generalia“ bildeten, zuerst in Paris und Bologna, da war es der Papst, der diesem lockeren Verband und der sich darum herum bildenden „Universitas magistrorum et scholarium“ die Rechtsgestalt verlieh. (…)
So breitete sich nach 1200 ein weitmaschiges Netz Hoher Schulen über ganz Europa aus: Bologna, Paris, Oxford, Cambridge, Salamanca, Coimbra entstanden nebst Padua und Montpellier noch im 13. Jahrhundert… Um 1300 gab es in ganz Europa 13 Universitäten, gegen Ende des Jahrhunderts 28, und um 1500 waren deren 68.
Was aber hat nun diese „Säule Studium“ mit europäischer Integration zu tun? Nun, diese Hohen Schulen hatten im wesentlichen die gleichen Strukturen, die Examina waren die nämlichen wie auch die Lehrinhalte – christliche Offenbarung und antike Überlieferung. Außerdem waren die akademischen Grade überall gültig. Schließlich hatte jeder Magister oder Doktor die „licentia ubique docendi“, die allgemeine Lehrbefugnis. Diese aber war päpstlicherseits verliehen. (…)
Auf diese Weise entstand eine „gesamteuropäische“ Schicht von litterati, die durch gemeinsame Lehrinhalte, Erfahrungen und Bildungserlebnisse geprägt, alsbald nicht nur die niedrigen Schulen, sondern auch bischöfliche und fürstliche Kanzleien und Gerichtshöfe bevölkerte und in zunehmendem Maße Einfluß, wenn nicht Macht gewann.

Seitdem Kaiser Konstantin den Sonntag zum arbeitsfreien, dem Gottesdienst vorbehaltenen Tag erklärt hatte, bildete dieser ein im ganzen Imperium und nach dessen Ende im ganzen sich neuformierenden „Europa“ ein herausragendes, das Alltagsleben bestimmendes Strukturelement. Ähnliches gilt, namentlich seit Papst Leo dem Großen, zunehmend auch von den großen Festen und den Fest- bzw. Fastenzeiten der Kirche.
Indem nun allenthalben Kauf- und Verkaufsurkunden, Testamente, Verträge und Friedensschlüsse, sogar private Briefe nach dem kirchlichen Festkalender datiert wurden, wurde – sichtbar – auch das profane Geschehen in Bezug zur Geschichte des Heils gebracht. Die Jahre zählte man ohnehin seit dem 6. Jahrhundert nach Christi Geburt – als „Anni Domini“, „Anni Salutis“, „Anni Incarnationis Domini“ etc.

Davon abgesehen, daß Handel und Wandel auch im Mittelalter blühten, war es vor allem das Wallfahrtswesen, an dem sichtbar wird, welch hoher Grad an Mobilität in dieser Gesellschaft selbstverständlich war, eine Mobilität, die ihren Impuls aus der kirchlichen Frömmigkeit empfing. Es zog die Gläubigen von Anfang an nicht nur an die Orte des Lebens Jesu, sondern auch an die Gräber der Apostel und Heiligen, auf deren Fürsprache bei Gott sie hofften.
(…) Was aber bedeutete dies? Nicht mehr und nicht weniger, als daß tausende Gläubige, Männer wie Frauen, sich auf den Straßen Europas unterwegs zu diesen heiligen Orten befanden. Dabei verließen sie ihre Heimat, überschritten Grenzen, lernten fremde Länder und Völker kennen und kehrten – vom eigentlichen religiösen Gewinn abgesehen – mit einer ihnen beim Aufbruch selbst nicht vorstellbaren Fülle von Eindrücken nach Hause zurück. (…) Auf dem Weg selbst fand der Wallfahrer ein logistisch gut geplantes System von Pilgerherbergen, von Spitälern für erkrankte Pilger vor.

Das Selbstverständnis des Menschen, der sich und seine Mitmenschen als Ebenbild Gottes, als Teil der Schöpfung und zugleich als ihr Gestalter und Verwalter, als Partner Gottes, als mit Freiheit begabte und zur Verantwortung vor Gott gerufene Person verstand, ebenso wie das Wissen darum, daß er sich auf dem Weg zum Ziel seiner ewigen Vollendung befindet, – all dies mußte das Lebensgefühl, das Verhältnis zu Mitmensch und Welt aufs Nachhaltigste prägen.
Keine Frage, daß all dies dem einzelnen je nach seinem Fassungsvermögen in unterschiedlichem Maße bewußt war. Unbestritten ist auch, daß trotzdem die Mächte des Bösen im Leben des einzelnen wie der Gesellschaft nicht einfach gebannt waren. Gerade aber das Wissen um Sünde und Schuld, um die Notwendigkeit und Möglichkeit von Umkehr und Vergebung war unbestrittenes Gemeingut dieser christlichen Gesellschaft. Ohne diese Hintergründe die gewaltigen Leistungen in Wissenschaft und Kunst, im Gesamten der Kultur erklären zu wollen, erscheint unmöglich. Vielmehr wird aus den Ergebnissen erkennbar, welche kulturschöpferische Kraft das der Bevölkerung eines Kontinents für ein Jahrtausend gemeinsame Lebens?ideal, ihre gemeinsamen sittlichen Normen, zu entfalten vermochten.

Der Autor ist Professor em. für Kirchengeschichte, Ex-Präsident des Päpstl. Komitees für Geschichtswissenschaften und seit 2010 Kardinal. Auszüge aus „Licht und Schatten, Kirchengeschichte zwischen Glaube, Fakten und Legenden“, St. Ulrich Vlg, 222 Seiten, 16,90 Euro

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