VISION 20004/2011
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„Es wird dir nie an Liebe mangeln“

Artikel drucken Lernen, sich mit den Lebensumständen abzufinden – und mit Gottes Hilfe an ihnen zu wachsen (Anne-Dauphine Julliand)

Extremsituationen im Leben: Man kann an ihnen zerbrechen oder wachsen. Als Anne-Dauphine Julliand, Mutter von 4 Kindern, erfuhr, ihre Tochter sei unheilbar krank, begann für sie ein ungeahntes Abenteuer der Liebe.

Sie sind Autorin eines wunderbaren Buches, „Deux petits pas sur le sable mouillé“, über die unheilbare Krankheit ihres Kindes. Können Sie uns ein kurzen Auszug daraus vorlesen?
Anne-Dauphine Julliand
: Am Ende des Arztbesuches ziehe ich meine Tochter, die auf dem Untersuchungstisch sitzt, wieder an. Dabei wende ich meinem Mann Loic, dem Arzt und der Psychologin, die ebenfalls anwesend sind, den Rücken zu. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt ihr. Mit der Spontaneität einer Mutter, einer Mutter, die leidet, sage ich zu ihr: „Thais, hast du gehört, was der Arzt gesagt hat? … Es ist wirklich schlimm. Und es ist schrecklich, ja furchtbar traurig. Aber, mein Liebling, all das wird uns niemals daran hindern, dich zu lieben und alles zu tun, damit du ein glückliches Leben hast. Ich verspreche dir: Du wirst ein schönes Leben haben. Sicher, kein Leben wie andere kleine Mädchen, aber ein Leben, auf das du stolz sein kannst: Es wird dir nie an Liebe mangeln.“

Das müssen sie näher erklären.
Julliand:
Thais ist zwei Jahre alt. An ihrem Geburtstag haben wir erfahren, dass das Kind, das sich bisher normal entwickelt hatte – Ausnahme war ein beim Gehen etwas verdrehter Fuß –, von einer unheilbaren, degenerativen, genetischen Erkrankung betroffen war. Sie würde nur mehr noch ein paar Monate zu leben haben. In dieser Zeit würde sie Schritt für Schritt alle Fähigkeiten, die sie erworben hatte, verlieren.

Wie haben Sie das als Mutter erlebt?
Julliand
: Als Mutter war da plötzlich alles infrage gestellt: Warum habe ich ihr das Leben geschenkt? Und genau in dem Moment, den ich eben vorgelesen habe, wird mir schlagartig bewusst, dass die Nachricht nichts an meinem Muttersein ändert. Ja, gerade da wurde mir besonders klar, was es heißt, Mutter zu sein: sein Kind zu lieben und es glücklich zu machen – was die Lebensumstände auch immer sein mögen.

Mich hat bei dem, was Sie vorgelesen haben, gewundert, dass Sie nicht geschrieben haben, sie seien bei dieser Nachricht weinend zusammengebrochen…
Julliand
: Ich habe natürlich schon geweint. Schließlich war ich ja zutiefst traurig. Aber zusammengebrochen bin ich nicht, weil sie ja da war. Sie war ja nach wie vor das lebendige, fröhliche Mäderl wie vorher. Sie hat mir geholfen durchzuhalten.

Hatten Sie Schuldgefühle – viele erleben das ja bei solchen Erkrankungen?
Julliand:
Nein. Schuldgefühle bekommt man, wenn man sich fragt: Warum nur? Dann sucht man nämlich nach einem Schuldigen. Ich hatte das Glück, mich das nie zu fragen. Ich habe diese Frage instinktiv abgewiesen. Es gibt ja keine Antwort darauf, eine Antwort, die mir hilft voranzuschreiten. Natürlich kann man nach Schuldigen suchen: ich, mein Mann, vielleicht der liebe Gott… Ich habe jedenfalls nie danach gefragt. Wohl aber danach, wie wir das schaffen. Ich brauchte Verbündete…

Waren Sie jemals auf Gott böse?
Julliand:
Nein, nie.

War Gott ein Verbündeter?
Julliand:
Ja, das war Er! Ich glaube nicht daran, dass Gott uns das Leiden schickt. Das Leiden ist nun einmal da und Gott bietet uns Seine Begleitung an. Er kann aus diesem Leiden etwas Positives machen. An uns liegt es, uns auf Seine Nähe und Begleitung einzulassen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hätten eine Stimme gehört, die sagt: „Wenn du wüsstest…“
Julliand:
Ich denke, dass es Gott war. Ich habe das noch vor der Diagnose des Arztes gehört. Es war keine ernste, traurige Stimme. Es war nicht nur die Ankündigung der Krankheit, sondern vor allem der Hinweis auf das, was sich alles in unserem Leben verändern würde, was wir dank der Krankheit alles verstehen würden, eine Art Vorbereitung.

Das Schöne an Ihrem Zeugnis ist die Tatsache, dass es zwar den Schmerz beschreibt, vor allem aber das Leben bezeugt…
Julliand:
Ja, das Leben, das ganze Leben. Die Trauer verdrängt ja nicht das Leben. Thais Leben bezeugt ausgiebig, dass dieses Mädchen noch in den letzten Phasen seines Leben zu spielen vermochte. Da waren eben das Leben und der Tod. Wir sind gemeinsam vorangeschritten, im Vertrauen zueinander.

Wie spielt sich diese Begleitung im Alltag ab?
Julliand
: Professor Bernard sagt einen schönen Satz: Man muss dem Tag Leben hinzufügen, wenn man dem Leben keine Tage mehr hinzuzufügen vermag. Das heißt nicht: Jeden Tag etwas Ausgefallenes zu unternehmen. Es heißt, alles mit Liebe zu tun, jeden Moment zu nutzen. Einen Tag nach dem anderen zu leben und nicht über diesen hinauszuschauen. Am Abend einschlafen und sagen: Wie schön war doch der heutige Tag! Die guten Momente in Erinnerung rufen – und nicht die schlechten. Das ist der Schlüssel: Das Leben könnte auch nur einen Tag dauern. Heute ist wichtig. Ich weiß nicht, was morgen sein wird.

Haben die Leute Ihre Botschaft mitbekommen?
Julliand:
Ja, da bin ich sicher. Viele Leser schreiben mir. Eine junge Frau etwa: „Danke, nachdem ich Ihr Buch gelesen habe bin ich sicher: Eines Tages will ich Mutter sein.“ Sie hat verstanden. Man könnte das Buch auch als Geschichte der Erkrankung eines Mädchens, genauer gesagt, zweier Mädchen, denn ich habe noch eine kranke Tochter, lesen. Ein nicht gerade ergötzliches Umfeld. Da könnte man ja auch anders reagieren und sagen: Wenn das so ist, will ich wirklich keine Kinder haben. Die junge Frau hat aber begriffen: Ein schönes Leben ist nicht eines, das ohne Prüfungen abgeht. Es ist eines, in dem man an seinen Prüfungen gewachsen ist. Und das hat diese junge Frau verstanden.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der man Angst hat. Sie zeigen, daß Sie sich nicht fürchten…
Julliand
: Ich hatte vorher Angst, jetzt aber nicht mehr. In unserer Gesellschaft hat man Angst vor dem Tod, versucht ihn zu verdrängen, redet nicht über ihn. Dank unseres fünfjährigen Sohnes, der uns eines Tages gesagt hat: „Der Tod ist nicht schlimm. Jeder wird sterben,“ haben wir begriffen: Der Tod ist zutiefst mit dem Leben verflochten. Es ist ja die einzige Gewissheit, die es gibt: Eines Tages werden wir sterben. Sobald man die Angst vor dem Tod überwindet, verschwinden auch viele andere Ängste, insbesondere die vor dem Leben. Ich weiß: Niemals mehr werde ich mich vor dem Leben fürchten.

Muss man dem Tode ins Auge sehen können? Haben Sie und Ihre Tochter dies getan?
Julliand:
Ich weiß nicht, ob der Tod Augen hat. Jedenfalls haben wir ihn angenommen. Wir haben uns nicht vor ihm gefürchtet. Wir hatten ja auch keine andere Wahl. Wir sind auf ihn zugegangen. Also ging es darum, es mit so viel Sanftheit und klarem Blick wie möglich zu tun. Nicht vor ihm davonzulaufen.

War sich ihre Tochter bewusst, was da geschah? Schließlich war sie zwei Jahre alt…
Julliand
: Auf jeden Fall. Sie wusste, was geschah. Thais wusste, dass ihr Leben nicht das der anderen Kinder war. Meinem Eindruck nach hatte sie ihren besonderen Lebensweg angenommen. Sie wusste, dass sie nicht lange leben würde, sie wusste aber auch, dass man sie liebte. Trotz aller Fähigkeiten, die sie einbüßte, erlebte sie, dass wir sie liebten. Und so ist sie nach einem schönen Leben als kleines Mäd?chen gelassen gestorben.

Sie haben noch einem zweiten Mädchen, das ebenfalls krank ist, das Leben geschenkt. Wieso?
Julliand:
Als wir von der Krankheit von Thais erfahren haben, war ich mit diesem dritten Kind schwanger. Die Ärzte meinten, sie habe 25% Chance ebenfalls von der Krankheit betroffen zu sein. Erstens einmal hoffte ich, dass sie die Krankheit nicht haben würde und zweitens war es für mich klar, dass ich sie nicht töten lassen wollte. Ich wollte dem Leben eine Chance geben. Ein paar Tage nach ihrer Geburt hat man uns mitgeteilt, dass sie dieselbe Krankheit habe. Dennoch bedaure ich meine Entscheidung in keiner Weise.

Woher beziehen Sie Ihre Gelassenheit? Waren sie auf die Schwierigkeiten vorbereitet?
Julliand:
Nein. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Ich hatte allerdings einen guten familiären Hintergrund, einen Mann, den ich liebe, und eine positive Einstellung zum Leben. Ich bemühe mich um ein glückliches Leben. Thais hat unser Leben verändert, hat uns viel Schönes beigebracht. Sie hat uns gelehrt, wahres Glück zu empfinden.

Muss man etwa auf das Glück setzen, in das Glück investieren?
Julliand
: Unbedingt. Man steht eben vor einer Wahl. Das haben wir mit Thais begriffen. In bestimmten Situationen gilt es zu wählen, welchen Weg man einschlägt. Man muss also das Glück wählen. Das ist ein Willensakt. Auch die Frage, ob man sich von Gott begleiten lässt, hängt von einer bewussten Entscheidung ab.

Wie funktioniert das im Alltag? Ein Zwang zum positiven Denken?
Julliand
: Ich hatte mir vorgenommen, mir folgendes bewusst zu machen: Du hast dein Kind vor dir, sieh nicht die Krankheit, sondern dein Kind! Das ist in sich ein positiver Akt. Man wird nicht vom Kranksein des Kindes überwältigt. So habe ich zwar wahrgenommen, was sie an Fähigkeiten verlor, aber auch, was sie dazugewonnen hat. Sicher, Thais konnte nicht mehr sehen, hören, sprechen – aber sie konnte weiterhin mit mir kommunizieren, wenn auch nicht über die üblichen Kanäle. Das habe ich von ihr gelernt. Natürlich gibt es Tage, an denen alles zu schwer wird, man nur noch weint. Auch das muss man annehmen – und sich sagen: Ich will morgen wieder das Gute sehen.

Ist das die Mütterlichkeit, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind?
Julliand:
Ja. Ich selbst habe das in einer Extremsituation erlebt. Aber dasselbe gilt für den normalen Lebensverlauf. Daher wendet sich mein Buch auch an alle Eltern. Es geht um die Frage: Was erwarte ich vom Kind? Jeder von uns hat doch Erwartungen an seine Kinder. Wir haben Lebensentwürfe für sie parat. Und dann sind wir mit der Realität des Kindes konfrontiert. Und diese muss man akzeptieren lernen. Thais hat mir das beigebracht. Sie hat mich gelehrt, wirklich Mutter zu werden, in der Tiefe meines Herzens.

Das Leitbild der Mütterlichkeit ist Maria. Sie wird oft als Weinende dargestellt. Warum ist das Muttersein so stark mit dem Leiden verbunden?
Julliand
: Ich bin mir nicht sicher, ob das Leiden so zentral ist. Als Mutter bin ich im wahrsten Sinn des Wortes mit meinem Kind verbunden – sogar leiblich. Und dann kommt es im Leben zu einer Folge von Trennungserlebnissen – vom Moment des Zerschneidens der Nabelschnur bis zum Tod. Und das gilt es zu akzeptieren. Man muss das Kind sein eigenes Leben leben lassen. Man kann die Tränen, die bei diesen Trennungserfahrungen fließen, als Zeichen des Leidens deuten – sie sind jedoch nicht nur Tränen des Schmerzes.

Inwiefern hat Ihnen Ihr Glaube geholfen?
Julliand
: Er war eine reale Hilfe: die Kraft des Gebets in den schwersten Momenten eines solchen Lebensabschnitts. Wir haben auch gespürt, dass andere Leute für uns gebetet haben. Es hat uns bei schweren Prüfungen geholfen, einen Schritt vorwärts zu setzen. Und: Ganz fest mit dem ewigen Leben zu rechnen, ist für eine Mutter, die ihr Kind verliert, ein enormer Trost. Man sagt sich dann: Was sind diese 3 Jahre und 9 Monate gegen ein Leben in Ewigkeit. Das Leben ist eben nicht absurd, wenn man an das ewige Leben glaubt. Dieses Wissen hat uns eine gewisse Abgeklärtheit vermittelt.


Gekürzte Fassung der Interview-Sendung: „Un coeur qui écoute – Maternité, gesendet am 30.5.1011

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