Rufe nach „Reformen“, Papstkritik, Missbrauchskandal, Aufruf zum Ungehorsam – die Kirche scheint in der Krise zu stecken. Was diese kennzeichnet und wo sich Auswege eröffnen, untersucht folgender Beitrag:
Vor vielen Jahren, in der Zeit, in der die innerkirchlichen Kritiken an der Kirche ihren Anfang nahmen, neigten die Verantwortlichen zum „Durchtauchen“ der Krise, zum „Ignorieren“, zum „Hoffen auf die biologische Lösung“ oder gar zum „Ins Boot holen“, wie es ein österreichischer Bischof dem Kirchenvolksbegehren gegenüber einmal formulierte!
Diese Hoffnungen haben sich als illusorisch erwiesen, was jedoch vorhersehbar war, wenn man die prophetischen Worte des katholischen Philosophen Dietrich von Hildebrand bedacht hätte. Vielleicht auf Grund seiner Erfahrungen im Kampf gegen die so viele berauschende Ideologie des Nationalsozialismus hatte er wie einer der alten Propheten das Unheil vorausgesehen, als die Welt noch in Ordnung zu sein schien. Er sprach nämlich von der „kommenden, größten Kirchenkrise, die es bisher gab, weil die neuen Häretiker nicht nur einzelne Wahrheiten ablehnten, sondern den Anspruch der Wahrheit überhaupt entthronten!“
Zu dieser Aussage passt auch der heilige Zorn Robert Spaemanns, der erst kürzlich die unterschiedliche Reaktion von Seiten mancher Vertreter der Kirche auf einerseits die Leugnung der Auferstehung und andererseits die Nicht-Zahlung der Kirchensteuer anklagte: Keine Reaktion, wenn es um Glaubenswahrheiten, aber Exkommunikation, wenn es ums Geld geht!
Es war ebenfalls Spaemann, der eine weitere Bedrohung der Wahrheit benannte: „Die Freiheit, persönliche Überzeugungen zu äußern, wird zunehmend durch einen Zwang zu politischer Korrektheit eingeschränkt.“
Wenn er bei dieser Feststellung wohl mehr an Politik und Gesellschaft dachte, so sind diese politischen Korrektheitsgebote längst auch in kirchliche Einrichtungen eingedrungen. Auch innerhalb der Kirche hat „man“ eine Art „kirchliche Korrektheit“ eingeführt: „Lieber keine als lateinische Messe!“ Oder: „Homosexualität: eine Fehlentwicklung?“.
Wie im öffentlichen Leben wird auch die Verletzung dieser Korrektheit“ geahndet und in diesem Sinn kann man wirklich von einer „innerkirchlichen“, selbstgemachten „Christenverfolgung“ sprechen: Wer sich widersetzt, wird ausgegrenzt, gemobbt, abgesetzt, isoliert! Nicht, dass die solchermaßen Verfolgten nicht auch Fehler hätten und sich dadurch angreifbar machen! Nicht, dass sie nicht manchmal Skrupulanten und ungesund konservativ wären! Der Punkt ist: Bei ihnen siebt man die „Mücken“ und da hilft keine noch so demütige Annahme berechtigter Kritik aus der „Einzelhaft“ ihrer Isolation heraus, die kleinste Schuld gilt als niemals vergebbare Sünde!
Bei den Häretikern und Aufständischen hingegen werden dogmatische und moralische „Kamele“: „Fegefeuer gibt es nicht“, „Fristenlösung soll bleiben“ im Namen von Toleranz und Liebe locker geschluckt, ihre Sünden werden vergeben, bevor sie sie begangen haben! Bei ihnen ist Menschlichkeit angesagt und die schlimmste Sünde wäre es, sie zu „diskriminieren“! Denn auch wenn niemand genau sagen kann, worin Diskriminierung besteht, sie ist die Todsünde aller Todsünden wie früher in manchen Kreisen auch noch die kleinste Sünde gegen das 6. Gebot!
Krise der Kirche heute? Ja, und es ist vor allem eine Krise der Wahrheit, in die die Kirche geraten ist, wie Hildebrand es vorausgesehen hat! Angesichts des Skandals der Missbräuche durch Männer der Kirche erinnerte Kardinal Christoph Schönborn, vor der Setzung einzelner Maßnahmen, an Jesu Wort: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Das ist sicher nicht nur für den Missbrauch die richtige Wegweisung, sondern auch die nötige Antwort auf die Krise der Wahrheit.
Papst Paul VI. sprach vor Jahren, auch damals schon kirchenpolitisch unkorrekt, vom „Rauch Satans, der durch irgendeinen Riss in den Tempel Gottes eingedrungen sei.“ Als „Rauch Satans“ bezeichnete der Papst gemäß eigener Auslegung „den Zweifel, die Unsicherheit, die Infragestellungen, die Unruhe, die Unzufriedenheit, die Auseinandersetzungen“ in der Kirche.
Diese Situationsanalyse ist, zugegeben, schon rund 40 Jahre alt und lässt sich in einer Debatte leicht als überholt abtun. Aber ist sie es wirklich, muss man nicht eher sagen: Was Papst Paul VI. wahrnahm und beschrieben hat, diesen „Rauch“, er ist nicht weniger geworden, sondern dichter. Es gibt Unbelehrbare, die sich weigern, Erfahrungen an sich heranzulassen, Tatsachen sein zu lassen, was sie sind, die nur gelten lassen, was ihren Wünschen und ideologischen Vorurteilen entspricht!
Die Realisten aber, also diejenigen, die sich der Wirklichkeit unabhängig davon, ob sie angenehm ist oder nicht, zu stellen bereit sind, werden den „Rauch Satans“ sehr wohl riechen und als den Gestank Satans erkennen und wie Papst Paul VI. versuchen, den Riss, durch den er ins Heiligtum eingedrungen ist zu schließen.
Allerdings, man könnte Papst Paul VI. auch ergänzen und sogar ein wenig widersprechen: Eine Kirche ohne kleinere und größere Mengen an „Rauch Satans“ und „Rissen“, durch die dieser eindringen kann, gab es nie und wird es nie geben! Schon die Hl. Schrift sagt uns voraus, dass es Spaltungen (Gal 5,17; 1 Kor 11,18) geben wird, Sünde und Irrlehren aller Art und dass der Glaube noch drastischer „verdunsten“ (Lk 18,8) wird, als er es heute tut. Den Christen wird an keiner Stelle ihr Sieg durch „Weltbekehrung“ vor dem geheimnisvollen „Ende“ und der „Wiederkunft des Herrn“ verheißen!
Ihnen wird immer nur gesagt: Man wird euch verfolgen, haltet durch, bleibt standhaft, lebt als kleine Herde, verliert nicht die Hoffnung, der Herr wird wiederkommen, ganz, ganz sicher! Anders gesagt: In der Kirchengeschichte gab es immer schon Krisen, ganz krisenfrei ist die Kirche überhaupt nie gewesen und kein noch so großer Papst konnte eine Kirche „schaffen“, die ganz und gar dem Evangelium entsprach.
Wenn man es drastisch sagen will: Auf jede Phase der Kirchengeschichte trafen die Prophetenworte zu, mit denen Gott seinem Volk das Register seiner Untreue vorhielt, sodass man die „Versuchung Gottes“ (!!!) versteht, sein Volk, weil hoffnungslos untreu, zu verlassen: „Hätte ich doch eine Herberge in der Wüste! Dann könnte ich mein Volk verlassen und von ihm weggehen.“ (Jer 9,1). In der heutigen Diktion: bereits die Propheten beklagten – meist mit drastischen Bildern –einen „Reformstau“ des Volkes Gottes.
Solche Gedanken sind wichtig, aber eines dürfen sie nicht: Dazu führen, dass die Christen die Not der Zeit relativieren, sie schönreden und ihr schweigendes Nichtstun für gottgewollt erklären. Wahr ist vielmehr: Christen dürfen nicht aufhören, das Licht Christi auf den Leuchter zu stellen, auch wenn andere versuchen, es auszulöschen. Sie müssen Zeugnis ablegen und reden auch dort, wo man versucht, sie zum Schweigen zu bringen. Während ihre Feinde den „Turm von Babel“, eine in jeder Hinsicht „Gott-freie Stadt“ zu errichten suchen, müssen die Christen wissen, dass ihre eigentliche Heimat jenes Jerusalem ist, in dem Gott wohnt!
Ja, die Kirche durchlebte schon viele Krisen, aber immer standen Männer und Frauen, Kleriker, Ordensleute und Laien auf, forderten eine Reform der Kirche und führten sie mit der Hilfe Gottes auch durch. Reform heißt: ein zurück der Kirche zu der Gestalt, die Jesus ihr gegeben hat, nicht ein Papst, keine Bischofskonferenz, kein Gremium aus dem Kirchenvolk, sondern Jesus selbst!
Bestimmte „Bewegungen“ reden heute viel von einem „Reformstau“ in der Kirche und zählen dabei gebetsmühlenartig 5 Punkte auf: Zugang zur Eucharistie für Protestanten sowie für Geschiedene, die wieder geheiratet haben. Priesterweihe der Frau, eine neue, selbstbestimmte Moral, vor allem (wen wundert’s!) bezüglich der Sexualität, Abschaffung des Zölibats und, im Namen der „Gleichheit aller Getauften“ Mitbestimmung in allem und jedem, auch in Fragen der Lehre.
Der von den großen, heiligen Reformern der Geschichte beklagte „Reformstau“ und die ihmentsprechende Forderung war immer ganz anderer Art: Nicht mehr Vollmachten für Menschen, sondern mehr Raum für Gott, mehr Liebe zu Ihm aus allen Kräften, aus ganzem Herzen und mit allen Gedanken! Gehorsam statt Ungehorsam, Treue zur Lehre der Kirche statt eigene „Meinungen“, Anerkennung der Ordnung in der Kirche, sogar, wenn deren Verwalter offensichtlich Sünder waren, was z. B. Katarina von Siena immer wieder forderte!
Die Heiligen sagten: Der erste Reformstau steckt in Dir selbst, also braucht es zuerst deine Bekehrung und deine Veränderung, nicht die der Kirche, des fortlebenden Christus, des Tempels des Hl. Geistes. Keine Veränderung in der Kirche? Doch aber nur als Werk des hl. Geistes, nicht als Abstimmung und durch „Druck von unten“ wie bei Grabenkämpfen politischer Parteien.
Wer informiert ist, was vor allem in der Kirche Mitteleuropas vor sich geht, kann viele traurige Geschichten erzählen. Ordnen könnte man die „Brand-Herde“ der Krise so: Die Krise besteht erstens im Ungehorsam vieler Christen jedes Standes, der aber, im Unterschied zu gewöhnlichen Sündern, mit der Behauptung auftritt, man habe ein Recht oder sogar die Pflicht so zu handeln.
Die Krise besteht zweitens, im Abfall vom Glauben und der Moralehre der Kirche auf der Ebene der Theologieprofessoren und vieler, vieler Priester und Laien. Dabei pocht man auf das Menschenrecht, eine eigene Meinung zu haben, und auf jene irrige „Gewissensfreiheit“, die eigentlich „Freiheit vom Gewissen“ meint. Die Kirche hat dies zu Recht verurteilt und auf dem Konzil die „Freiheit des Gewissens“ gelehrt!
Und zuletzt, und das ist eigentlich der schlimmste „Spalt im Kirchenboden“: Der Rauch Satans ist in die Liturgie eingedrungen. Die Folge ist: Nicht immer und überall, aber doch dann und wann und da und dort feiert man nicht mehr das Geheimnis Jesu Christi, sondern sich selbst, man spricht von „unserer Kirche“ statt von „Deiner Kirche“, vom Menschen Jesu, der „wie Gott“ war und nicht von dem, der „Gott ist“, vom „heiligen Brot“ und nicht vom „Leib Christi“, man ersetzt das Evangelium durch irgendeinen „schönen Text“ oder leitet bereits die Kinder in der Schule an: Schreibe „dein persönliches Glaubensbekenntnis auf“, als ob die Kinder nicht genug zu tun hätten damit, in den einen Glauben der Kirche hineinzuwachsen.
Alles in guter Absicht? Oft ja, aber man bedenke: „Gute Absicht“ ist nicht alles, diese hatten auch die Schriftgelehrten und Pharisäer, sogar als sie die Kreuzigung Jesu betrieben. Man kann die Kirche zerstören, während man sie in guter Absicht „reformieren“ will. Wahre, heilende Reform gibt es nur mit „den alten Methoden“ der Heiligen! Und nur mit Petrus, niemals ohne oder gar gegen ihn.
So wird es kommen wie in früheren Zeiten auch: Gott wird uns Heilige senden und die Frage wird sein, ob wir sie erkennen und annehmen. So und nur so werden wir heutigen Christen neu evangelisieren und die Krise bewältigen können. Und die Christengeneration nach uns wird wieder dasselbe tun müssen: Ihre Krise mit Hilfe ihrer Heiligen lösen. Und so weiter bis zum Ende aller Kirchenkrisen bei der Wiederkunft des Herrn, wo sich jedes Knie vor Ihm beugen wird!
Wir sind Kirche – ja, aber!
Wenn wir sagen: „Wir sind Kirche“ – ja, es ist wahr: Wir sind es, nicht irgend jemand. Aber das „Wir“ ist weiter als die Gruppe, die das gerade sagt. Das „Wir“ ist die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, heute und aller Orten und Zeiten. Und ich sage dann immer: In der Gemeinschaft der Gläubigen, ja, da gibt es sozusagen den Spruch der gültigen Mehrheit, aber es kann nie eine Mehrheit gegen die Apostel und gegen die Heiligen geben, das ist dann eine falsche Mehrheit. Wir sind Kirche: Seien wir es, seien wir es gerade dadurch, daß wir uns öffnen und hinausgehen über uns selber und es mit den anderen sind.
Ansprache des Papstes bei der Begegnung mit den Priesterseminaristen in Freiburg am 24.9.11
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In Deutschland ist die Kirche bestens organisiert. Aber steht hinter den Strukturen auch die entsprechende geistige Kraft – Kraft des Glaubens an den lebendigen Gott?
Ich denke, ehrlicherweise müssen wir doch sagen, daß es bei uns einen Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist gibt. Und ich füge hinzu: Die eigentliche Krise der Kirche in der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens. Wenn wir nicht zu einer wirklichen Erneuerung des Glaubens finden, werden alle strukturellen Reformen wirkungslos bleiben.
Papst Benedikt XVI.
Ansprache bei der Begegnung mit dem Rat des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, Freiburg am 24.9.11