VISION 20003/2012
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Kardinal Nguyen Van Thuan

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Dom Antoine Marie OSB)

Franz-Xaver Nguyen Van Thuan wurde am 17. April 1928 in der Nähe von Huê, der ehemaligen Hauptstadt Annams, geboren. Die Familie des Vaters bestand aus Unternehmern und Händlern, die der Mutter aus hohen Mandarinen. Beiden Familien gemeinsam waren jedoch seit Generationen der christliche Glaube sowie die Heimatliebe: Hier wie da gab es zahlreiche Märtyrer. Vietnam hatte ja zwischen 1644 und 1888 mehrere blutige Verfolgungswellen erlebt, die insgesamt etwa 150.000 Märtyrer gefordert hatten.
Nguyen Van Am und seine Frau Hiep waren seit 1924 verheiratet. Ihrem zweiten Sohn – dem sieben weitere Kinder folgen sollten – gab Hiep den Namen Thuan („Gottes Wille“). Thuan hatte eine glückliche Kindheit; eine besondere Zuneigung und Bewunderung hatte er für seine Onkel Thuc und Diem (er sollte später südvietnamesischer Präsident werden). Als Thuan 13 Jahre alt wurde, bat er um die Erlaubnis, auf dem kleinen Seminar von An Ninh weiterlernen zu dürfen, wo auch sein Onkel Thuc Schüler gewesen war, bevor er Priester und später Bischof wurde. Die Lehrer legten den Keim einer wahren Verehrung der Jungfrau Maria in Thuans Seele und stellten ihm verlässliche Lehrmeister zur Seite: den Pfarrer von Ars, Thérèse von Lisieux und Franz Xaver, seinen Namenspatron.
Im Herbst 1947 kam Thuan auf das Priesterseminar von Phu Xuan und beschäftigte sich intensiv mit der Summa theologiae des hl. Thomas. Auf diese Zeit geht auch seine Vertrautheit mit der Nachfolge Christi und dem Kleinen Offizium der heiligen Jungfrau zurück, Werke, denen er sein ganzes Leben lang treu blieb.
Thuan wurde am 11. Juni 1953 in Huê zum Priester geweiht. Drei Monate später wurde bei ihm eine fortgeschrittene Tuberkulose entdeckt und er wurde als Notfall ins Zentralkrankenhaus von Huê eingeliefert. Seine Eltern verbrachten Stunden am Krankenlager und beteten den Rosenkranz mit ihm. Im April 1954 wurde Thuan nach Saigon ins französische Militärkrankenhaus verlegt: Die Ärzte beschlossen, ihm einen Lungenflügel zu entfernen. Am Morgen der Operation wurde vor der Vollnarkose eine letzte Röntgenaufnahme gemacht: Überraschung: Von Tuberkulose keine Spur! „Das ist ein Wunder!«, rief Thuan freudig. Vier Tage danach kehrte er geheilt nach Huê zurück.
Thuan wurde von seinem Bischof zunächst nach Rom ent­sandt, wo er vier Jahre als Student verbrachte. In den Ferien reiste er durch Europa; im August 1957 stand er in Lourdes vor der Grotte und murmelte, ohne recht zu wissen, was er da sagte: „Im Namen deines Sohnes und in deinem Namen, Maria, nehme ich alle Prüfungen und alles Leid auf mich.“
1959 kehrte er nach Vietnam zurück. Im Jahr darauf wurde Thuan an die Spitze des kleinen Seminars gewählt. Nach einem Staatsstreich gegen Präsident Diem, seinen Onkel, wurde in den Jahren 1963-64 seine ganze Familie durch Morde und Hinrichtungen dezimiert. Es dauerte lange, bis Thuan lernte, seine Wut zu zähmen. Wenn er das Vorbild Jesu Christi betrachtete, sah er ein, dass kein Weg daran vorbeiführte, diejenigen zu lieben, die ihn so grausam verletzt hatten; sein Herz jedoch verschloss sich jeder Vergebung. Da führte ihm die Vorsehung das Beispiel P. Miguel Pros vor Augen, eines mexikanischen Jesuiten, der 1927 von der freimaurerischen Regierung seines Landes verhaftet und hingerichtet worden war und der seinen Henkern vergeben hatte.
Im April 1967 wurde Thuan von Paul VI. zum Bischof von Nha Trang ernannt und am 24. Juni in Huê geweiht. Die Diözese Nha Trang lag etwa 400 Kilometer von Saigon entfernt an der Küste und zählte damals 130.000 Katholiken. 1968 begann sich im Laufe der vom Vietcong geführten „Tet-Offensive« abzuzeichnen, dass die Kommunisten trotz der amerikanischen Präsenz Südvietnam kontrollieren würden.
Bischof Thuan beschloss, neben der Schulung von Laien aus den Reihen der Gemeindeglieder auch die Berufungspastoral zu intensivieren. In seiner Diözese stieg innerhalb von acht Jahren die Anzahl der Seminaristen von 42 auf 147 und auf dem bischöflischen Kollegium von 200 auf 500. Im April 1975, kurz vor der Machtübernahme durch die Kommunisten, weihte der Bischof den letzten großen Jahrgang von Seminaristen.
Nach und nach wurden die wichtigsten Städte vom Vietcong besetzt. Tausende Menschen mit ihren kranken und alten Familienangehörigen brachen in Richtung Süden auf. Bischof Thuan charterte Flugzeuge, um für diese Unglücklichen Tonnen von Medikamenten und Lebensmitteln aus der Luft abzuwerfen. Er zog sich damit die Feindschaft der Kommunisten zu.
Am 23. April 1975 erfuhr er, dass Paul VI. ihn zum Koadjutor des Erzbischofs von Saigon (mit dem Recht der Nachfolge) ernannt hatte. Am 13. August erhielt Bischof Thuan die Aufforderung, sich in den Präsidentenpalast zu begeben. Dort bedrängte man ihn zuzugeben, dass er ein Komplott des Vatikans vorbereite. Da er sich weigerte, wurde er in ein Auto verfrachtet, in ein Dorf in der Nähe von Nha Trang gebracht, dort beim Pfarrer einquartiert und unter Androhung von Repressalien gegen die Diözese mit Hausarrest und einem Kommunikationsverbot belegt. Bald begann er innerlich darunter zu leiden, dass er nicht als Bischof für Gott und die Menschen wirken konnte; in seinen schlaflosen Nächten fühlte er sich von Hass­gefühlen gegen seine Feinde gepeinigt und betete vergeblich dagegen an.
Als er einmal über die Gefangenschaft des heiligen Paulus in Rom nachsann, kam er auf die Idee, Briefe an die Gläubigen zu verfassen. So entstand das Werk Auf dem Wege der Hoffnung. Es wurde ohne Autorenangabe gedruckt und wanderte bald unter den Gläubigen von Hand zu Hand. Daraufhin sperrten die Behörden den Bischof in das Lager von Phu Khanh, in eine winzige fensterlose, modrige Zelle, die feucht und voller Schimmelpilze war: Dort blieb er neun Monate, ohne die Zelle auch nur einmal zu verlassen und ohne einen Mitgefangenen zu treffen.
Nach und nach begann sich die Isolationshaft auszuwirken: „Viele verworrene Gefühle geistern mir im Kopf herum“, schrieb er, „Trauer, Angst, nervöse Anspannung. Die Trennung von meinem Volk zerreißt mir das Herz ... Ich konnte nicht schlafen, ich wurde von dem Gedanken an die vielen Werke gepeinigt, die ich für Gott begonnen habe und die ich unvollendet zurücklassen muss, und mein Inneres begehrte dagegen auf. Da hörte ich eines Nachts tief in meinem Herzen eine Stimme zu mir sprechen: ‚Warum quälst du dich so? Du musst zwischen Gott und den Werken Gottes unterscheiden. Alles, was du begonnen hast und gerne weiterführen würdest, ist ausgezeichnet: Das sind Werke Gottes, aber nicht Gott selbst! Wenn Gott will, dass du all das hinter dir lässt, so tu das auf der Stelle und vertraue auf Ihn. Er wird die Dinge unendlich besser machen als du ... Du hast dich für Gott allein entschieden und nicht für seine Werke!’ Diese Erleuchtung brachte mir einen neuen Frieden, der mir half, Augenblicke durchzustehen, die physisch an der Grenze des Erträglichen waren.“
Er sah nun das Gefängnis mit neuen Augen, richtete seinen Blick fest auf Christus am Kreuz, und stellte fest, dass dieser genau in dem Augenblick, in dem Er am schwächsten war, das größte Werk Seines Lebens, die Erlösung der Welt, vollbrachte. Er, Thuan, konnte nicht mehr für Gott tätig sein; doch kein Gefängnis, kein Wärter konnte ihn daran hindern, Gott zu lieben!
1976 führte man ihn in ein Arbeitslager in den nordvietnamesischen Bergen. Dort gelang es ihm, sich von einem Christen etwas Wein schicken zu lassen, der als „Arznei gegen Magenschmerzen“ deklariert wurde, und – in einer Taschenlampe versteckt – auch ein paar Stückchen Brot. Er begann heimlich die Messe zu lesen; von da an verließ ihn nie mehr das Gefühl christlicher Freude. Er spendete den katholischen Mitgefangenen die Kommunion; durch seine Offenheit und seine Milde gewann er selbst unter den Wärtern Mithelfer. So wurde er 1977 erst in ein engeres Gefängnis in der Nähe von Hanoi verlegt, 1978 in ein verfallenes Pfarrhaus in einem Dorf namens Giang Xa und schließlich in eine Wohnung für Beamte der Staatssicherheit.
Dort durfte der Bischof sein Zimmer nicht verlassen, mit niemandem reden und nicht einmal aus dem Fenster schauen. Diesem Regiment musste er sich in den folgenden sechs Jahren fügen.
Doch er hatte sich bereits Gott anvertraut: Die Einsamkeit bereitete ihm keine Angst mehr. Durch seine beharrliche Freundlichkeit gelang es ihm, mit seinen Wärtern zu kommunizieren und sich eine menschliche Behandlung zu sichern. Die Behörden waren angesichts dieser „Verführung von Unschuldigen“ fassungslos und beschlossen einige Monate danach, Bischof Thuan in ein Gefängnis nach Hanoi zu überführen. Dort begann er wieder die Messe zu lesen: Seine Kraft war die Eucharistie.
Am 21. November 1988 klingelte ein Telefon im Flur. Da sprach Bischof Thuan folgendes Gebet: „Mutter, wenn mein Aufenthalt in diesem Gefängnis der Kirche nützt, so schenk mir die Gnade, hier zu sterben. Wenn ich der Kirche jedoch noch auf andere Weise dienen kann, so mach, dass ich freigelassen werde.“ Er hatte eben sein bescheidenes Mahl beendet, als die Tür seiner Zelle aufgestoßen wurde: „Mach dich fertig! Wir fahren zu einem hochgestellten Regierungsmitglied!“ Unterwegs erfuhr er, dass er von Innenminister Mai Chi Tho empfangen werde.
Dieser betrachtete Thuan und lächelte ihm zu: „Was wünschen Sie sich?“ – „Ich will frei sein!“ – „Gut. Wann wollen sie freigelassen werden?“ Thuan nahm seinen ganzen Mut zusammen und rief: „Heute!“ Tho lachte auf, gab ein paar Anweisungen, erhob sich und drückte Thuans Hand. Auf der Fahrt vom Gefängnis zum Sitz des Erzbischofs von Hanoi, wo er fortan wohnen sollte. Außer sich vor Dankbarkeit dankte Thuan seiner himmlischen Mutter: „Heilige Maria, du hast mir die Freiheit wiedergeschenkt! Sag mir, was ich jetzt tun soll!“
Nach einigen Wochen beantragte Bischof Thuan ein Visum, um Verwandte in Australien zu besuchen und mit dem Papst in Rom zusammenzutreffen. Merkwürdigerweise wurde ihm das Visum erteilt. Der Bischof war sehr gerührt, als er während der päpstlichen Audienz feststellte, dass Johannes-Paul II. seine Gefangenschaft über die Jahre hinweg aufmerksam verfolgt hatte.
Nach seiner Heimkehr wurden ihm in Vietnam die gleichen Bedingungen von Halbfreiheit auferlegt wie zuvor. In Anbetracht des hohen Alters der Saigoner Erzbischofs, dessen Koadjutor er immer noch war, konnte Bischof Thuan jederzeit zu einem der wichtigsten Vertreter der Kirche in Vietnam avancieren. 1989, einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer, teilte der Innenminister den versammelten Bischöfen mit, dass die Regierung die Wahl Bischof Thuans auf einen verantwortungsvollen Posten auf keinen Fall akzeptieren würde. Der „Fall“ wurde der Regierung so lästig, dass sie 1991 schließlich den Vorschlag machte, der Bischof solle doch „einige Zeit in Rom verbringen“. Im Klartext bedeutete das einen Fahrschein ohne Rückfahrt. Bischof Thuan nahm das Angebot erst nach Rücksprache mit dem Heiligen Stuhl an.
In den ersten zwei Jahren seines Exils widmete Bischof Thuan seine Zeit dem Dienst der vietnamesischen Diaspora und dem Schreiben von Büchern. Im April 1994 ernannte ihn Papst Johannes-Paul II. zum Vizepräsidenten des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, dessen Auftrag im wesentlichen darin besteht, die kirchliche Soziallehre in der ganzen Welt zu verbreiten und die Beachtung der Menschenrechte zu fördern. Am 2. Februar 1997 beendete der Bischof sein Buch Fünf Brote und zwei Fische, in dem er zum ersten Mal einige der ergreifendsten Erinnerungen an seine Gefängnisjahre veröffentlichte. Im März 2000 leitete Bischof Thuan die geistlichen Exerzitien der römischen Kurie. An deren Ende erklärte Johannes-Paul II.: „Er hat in uns die beruhigende Gewissheit gestärkt, dass selbst wenn alles um uns und vielleicht sogar in uns zusammenstürzt, Christus unsere beständigste Stütze bleiben wird.“ Ein Jahr später, am 21. Februar 2001 empfing Thuan die Kardinalswürde.
Einige Wochen danach unterzog der Kardinal sich einem chirurgischen Eingriff. Er litt an einer seltenen Form von Krebs und lebte nunmehr „von einem Tag zum anderen“, ohne sich um das Erbe zu kümmern, das er hinterlassen würde. Kardinal Thuan starb am 16. September 2002.
„Während seiner letzten Tage, als er schon nicht mehr sprechen konnte“, berichtete Papst Johannes-Paul II., „heftete er seinen Blick auf das Kruzifix, das er vor sich hatte. Er betete still, während er sein letztes Opfer vollbrachte ... Jetzt können wir sagen, dass seine Hoffnung voll von Unsterblichkeit war (Weish 3,4)! Das heißt, sie war erfüllt von Christus, der das Leben ist und die Auferstehung aller, die ihren Glauben auf ihn setzen.

Am 22. Oktober 2010 wurde in Rom der Seligsprechungsprozess für Kardinal Van Thuan eröffnet..

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