VISION 20004/2012
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Wenn die Seele hungert

Artikel drucken Bekehrt in der Kriegsgefangenschaft (Herbert Madinger)

Die endlosen Nächte unter freiem Himmel während der Gefangenschaft. Über uns die Sterne. Ringsherum die Kälte der Apriltage. Und in uns die Leere. Was ist das Leben?  Wofür leben wir? Werden wir überhaupt jemals noch herauskommen aus dieser Hölle von Stacheldraht, Hunger, Gewalt und Hoffnungslosigkeit? So war es damals. War es nur in meinem Herzen so? Viele haben damals zu Gott gefunden. Wenn du satt bist und ein Dach über dem Kopf hast, wenn du morgens zur Arbeit gehst und abends vor dem Fernseher sitzt, kannst du das alles wahrscheinlich nicht begreifen: den Hunger der Seele!
Der Hunger des Leibes hat uns zwar dem Tode nahegebracht, und Hunderttausende sind damals verhungert während der Gefangenschaft; aber der Hunger des Leibes war vergleichsweise belanglos. Denn der große und eigentliche Hunger war tief drinnen im Herzen: „Bin ich allein unter dem großen Sternenhimmel der Nacht?“ Und: „Interessiert sich irgend jemand für mein Schicksal?“ Unter den Milliarden Sternen der Nacht waren wir wie ein Staubkorn, wie ein Nichts. Und dennoch war unser Leben voll von schweren Lasten, voll Hunger an Leib und Seele, voll Trauer über Verlassenheit und Einsamkeit, voll von Ängsten über die Zukunft. (…) „Ist all das, was wir da an menschlicher Not und Tiefe erleben, ein Sinn loses Nichts? Belanglos vor dem ewigen Kreisen der Gestirne und vor der ewigen Wiederkehr der Nacht?“ Das war die Frage aller Fragen: „Hört mich jemand? Interessiert sich jemand für mich? Weiß jemand um mein Schicksal? Obwohl ich doch nur ein Staubkorn auf der Erde bin? Und obwohl unsere Erde nur ein Staubkorn im Weltall ist?“
Eines Tages fand ich einen ersten Angelpunkt. Zwei Dinge wurden mir klar. Erstens: „Es gibt eine Wahrheit! Ich darf meinen Freund nicht betrügen, nicht täuschen, nicht im Stich lassen.“ Denn wir alle waren damals nahe dem Verhungern. Es gibt eine Wahrheit! „Ich muss so leben, wie es der Wahrheit entspricht! Es ist nicht gleichgültig, ob ich meinen Freund verrate, ihm die Tagesration an Lebensmitteln unterschlage, ihm den besseren Schlafplatz wegnehme, oder ob ich ihm die Treue halte!“ Das war mir zuinnerst klar. Und ein Zweites: „Es gibt eine Liebe! Ich muss mich um meine Eltern und meine Schwester kümmern, die in der Russen-Zone in Gefahr sind!“ Damals wurde mir klar: „Es gibt eine Verantwortung für mein Leben. Ich werde einmal Antwort geben müssen auf die Frage: Was hast du getan? Wie hast du gelebt? Hast du deinen Freund betrogen? Hast du deine Eltern im Stich gelassen?“ Es gibt etwas über den Tod hinaus!
Das waren die zwei Angelpunkte meines Gottes-Glaubens: Wahrheit und Liebe! Es gibt etwas über den Tod hinaus: nämlich die Rechenschaft über mein ganzes Tun und Lassen, über Wahrheit und Lüge, über Liebe und Verrat. Damals begann ich, an den Gott zu glauben, vor dem ich einst Rechenschaft geben muss über alles, was ich getan habe. Gott!
Dann kam jene Stunde, in der Gott mich heimgesucht hat. Ich war krank, lag im Spital ganz oben in einem Stockbett. Ein ungarischer Priester, dessen Sprache ich nicht verstand, las, weil es Sonntag war, eine heilige Messe. Auch er war in Gefangenschaft, obwohl er uns längst hätte verlassen können. Ich verstand nichts von allem, weder das Latein der Messe noch die ungarische Predigt, noch das Gebimmel der kleinen Glocken, weder Wandlung noch Worte, aber Gott kam.
Er hat mir das Glaubens-Bekenntnis, das ich seit Kindertagen nie mehr gehört oder gesprochen hatte, Satz für Satz vorgesagt. Es war, wie wenn Mächte aus dem Himmel vor mir diese Sätze ausbreiten würden, die ich doch nicht kannte, nicht verstand, nicht glaubte. Gott hat mir damals jeden Satz ins Herz geprägt, so wie man ein Zeichen in Stahl einprägt. Unauslöschlich.
Es war für mich wie ein Wunder, denn ich hielt es für unmöglich, dass ich das Glaubensbekenntnis noch kannte. Aber seit dieser Stunde war der Glaube an alle diese Worte in mir! Von dieser Stunde an ging ich beichten, ging jeden Tag zur heiligen Messe, ging vor jeder Messe auf eine halbe Stunde in die Kirche zum stillen Gebet, ging jeden Tag zur heiligen Kommunion. „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen einzig-eingeborenen Sohn, unseren Herrn.“
Seither hat mich der Glaube nie mehr verlassen. Nur der Glaube an Gott vermag mein Leben zu füllen. Sonst ist alles sinnlos.
Der Autor wurde 1952 als Spätberufener zum Priester geweiht, war Gründer und Leiter der „Katholischen Glaubensinformation“ der Erzdiözese Wien und ist am 5. August 2010 88-jährig verstorben. Auszug aus Der Jünger Christi.

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