VISION 20004/2012
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Gefühle nicht überbewerten

Artikel drucken Die Lehre der Kirche als Maß des Glaubens (Winfried Pietrek)

Die Mehrheit aller Christen sind schlichte Menschen, die ihren Glauben stark an Gefühlen und Erlebnissen festmachen, weniger an der intellektuell formulierter Wahrheit. Gefühle gehören zu uns Menschen! Auch Herz, Stimme, Gesicht zeigen, wovon jemand überzeugt ist, und was er vielleicht persönlich erlebt hat.
Jesus hat Seine Apostel nicht nur durch Belehrungen geprägt, sondern auch in Erlebnissen wie den zwei Seestürmen, wunderbaren Fischfängen und in 41 ausführlich berichteten Heilungswundern sowie den Brotvermehrungen, vor allem aber – nach drei Toten-Erweckungen – durch Seine Erscheinungen als Auferstandener.
Für wen jedoch überwiegend Gefühle und Erlebnisse zählen, wenn es um ewige, göttliche Wahrheiten geht, dessen Gefühls-Christentum kann leicht ins Wanken geraten, wenn er meint, enttäuscht und verletzt zu werden. Gott will unsere Gefühle. Aber Er will nicht, dass wir sie als Fahrzeug menschlicher Eitelkeit und Rechthaberei benutzen, zuerst auf persönliche Rechtfertigung bedacht.
Wir sollen Gott auch „aus unserem ganzen Gemüte“ ( Lk 10,27) lieben, wie wir das etwa tun, wenn wir in ein begeisterndes Kirchenlied einstimmen, bewegt sind von einer großen Glaubensfeier oder einer Wallfahrt.
Doch unser Christsein darf sich nicht in Gefühlsregungen erschöpfen. Ihre Früchte müssen Wahrheiten sein. Wo Gefühle gegen Wahrheiten stehen, können Emotionen nicht echt sein… (…)  Emotional aufgeschreckte Gläubige fühlen sich zutiefst verletzt: „Warum erhört Gott mein Gebet nicht? Warum trifft gerade mich solches Leid? Warum muss ich jetzt sterben?“ Oder: „Was ich bis jetzt für echt gehalten, (z.B. einen Erscheinungsort), das soll nicht wahr sein? Ich soll mich so getäuscht haben?“ Stärker noch: „Ich habe mich dort bekehrt!“ – was in jedem Beichtstuhl weltweit möglich ist, aber in der Gruppe und an fremdem Ort aufbruchsbereit eher verwirklicht wird. (…)
Bei Irrwegen des Glaubens wird die Wahrheit an seinem Prüfstein gewetzt: an der Demut. „Mir geschehe nach Deinem Wort“ (Lk 1.38), sagt Maria zum Engel. Ähnlich betet Jesus vor Seinem Leiden, das irdisch nicht verständlich ist: „Nicht Mein, sondern Dein Wille geschehe!“ (Lk 22,42).
Wer seinen Glauben an der von Christus gestifteten Kirche festmacht (trotz ihrer menschlich-schwachen Werkzeuge), der ist besser geschützt als der, der meint, den Christus-Glauben allein in persönlicher Gott-Beziehung „erfahren“ zu können – was Jesus nicht gelehrt hat. Schon hier erhitzen sich die Gemüter, wobei es nichts bringt, sich über biblische Sachfragen zu ereifern.
Machen wir unseren Glauben an Jesus fest, am Credo der Urkirche, an den Evangelien, die erst in der schon existierenden Kirche aufgezeichnet werden und im Umfang festgelegt. Leben wir betend mit den Sakramenten! Bejahen wir die Glaubens-Entfaltung durch Jahrhunderte, in denen die Kirche, von Gottes Geist geführt, Entscheidungen treffen musste, die leider auch zu Abspaltungen führten, auch wenn diese sich manchmal erst nach Jahrhunderten, z.B. durch Befürworter praktizierter Homosexualität, stärker als Irrtümer herausstellten.
Wir alle treffen als Menschen notgedrungen Entscheidungen, die wir nicht bis ins letzte durchdenken können. Oft sind wir fast alle getäuscht, sonst gäbe es keine Irrwege ganzer Völker – bis hin zu den merkwürdigsten wissenschaftlichen Irrtümern („Das ist ja noch kein Mensch!“).
Wer die Demut nicht aufbringt, eine gesamtkirchliche Entscheidung, auf Formulierungen vieler Jahrhunderte aufbauend, hinzunehmen, wer nur auf ein Konzil, eine Papstäußerung, ein Bibelwort, einen Gnadenort pocht, ohne alles dem Gesamtzusammenhang einzuordnen, der kann des Christus-Glaubens verlustig gehen. Aus eigener Schuld! Weil er seine Gefühle und persönlichen „Erfahrungen“ über alles andere stellt, statt sich demütig-nüchtern an der Wahrheit festzumachen und festmachen zu lassen.

Der Autor ist emer. Pfarrer des Bistums Osnabrück und Mitarbeiter am „Kurier der Christlichen Mitte“. Diesem Medium (Ausgabe 6/12) ist der Beitrag auszugsweise entnommen.

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