VISION 20002/2013
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Verstehen – Wollen – Fühlen

Artikel drucken Der Dreischritt zur Vergebung aus psychotherapeutischer Sicht: (Von Univ. Doz. Raphael Bonelli)

Psychotherapeuten machen die Erfahrung, dass viele Patienten ihre Unversöhnlichkeit – das heißt ihre Unfähigkeit zur Ver­söhnung – als äußerst be­en­gend und belastend erleben. Daher lenkt die psychotherapeutische Forschung mehr und mehr das Augenmerk darauf zu erfassen, was Versöhnung fördern kann.

Die Vergebungsforschung belegt, dass Vergeben Stress reduziert und damit sowohl Körper als auch Psyche gut tut. Der Prozess des Verzeihens wirkt sich laut empirischer Studien positiv auf den Organismus aus, was etwa am Blutdruck, an der Muskelspannung und am seelischen Wohlbefinden abgelesen werden kann.
Bisher wurde der Aspekt der Vergebung in Europa kaum wissenschaftlich behandelt, vermutlich aus der Angst heraus, dass der Begriff an sich bereits Religion impliziert. „Forgiveness“ (englischer Ausdruck für Vergebungsbereitschaft, Anm.) ist jedoch in erster Linie ein psychischer Akt und nicht schon ein religiöses Phänomen. Verzeihung als optimale Form des Loslassens von erlittenem Unrecht beschreibt einen Prozess, der im Wesentlichen drei Schritte bzw. Ebenen braucht:
Erstens ist die Erkenntnis nötig, dass man auch selbst Fehler macht. Erst dadurch wird man bereit, auch dem Täter falsches Handeln zugestehen zu können.
Zweitens muss man vergeben wollen: Man braucht eine Portion Großmut, um tatsächlich in einer gröberen Sache „Schwamm drüber!“ sagen zu können.
Erst an dritter Stelle schwingt sich die Emotion auf die Vergebung ein. Also: erstens Verstehen, zweitens Wollen und drittens Fühlen. Zu allen drei Schritten gibt es heute konkrete Forschungsergebnisse.
Die Ebene des Verstehens hat die Psychologin Julie Exline von der „Case Western Reserve University“ eingehend untersucht. Sie hat sieben Experimente über kognitive (geistige) Flexibilität und Empathie durchgeführt und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Forgiveness statistisch mit dem eigenen Schuldbewusstsein zusammenhängt: Selbsterkenntnis der eigenen Fehler erleichtert auch die Vergebung erlittenen Unrechts – also fremder Schuld. Die Einsicht und Erkenntnis in die eigene Fehlerhaftigkeit ermöglicht es, auch anderen leichter Fehler zuzugestehen und damit erlittenes Unrecht zu verzeihen. Daraus folgt auch: Je fehlerloser ein Mensch vermeintlich ist, desto schwerer tut er sich mit dem Verzeihen.
Die Gruppe um den Forgiveness-Forscher Everett Worthington von der „Virginia Commonwealth University“ hat den Zusammenhang zwischen dem zweiten (Wollen) und dem dritten Schritt (Emotion) untersucht: Sie unterscheidet hier zwischen willentlicher und emotionaler Vergebung. Für einen tiefgreifenden Veränderungsprozess reicht es in schweren Fällen nicht aus, alleine den Entschluss zu fassen und einzig willentlich pragmatisch jemandem zu vergeben, von dem man sich verletzt fühlt. Hier ist dann oft psychotherapeutische Hilfe nötig: Der Wille macht eine neue Haltung des Verstehens des Täters möglich. Die emotionale Vergebung, die sich allein wie „wirkliche Vergebung“ anfühlt, muss mit einem Willensakt beginnen. Die Emotion hinkt dem Verstehen und Wollen hinterher: Wer nicht vergeben will, der vergibt auch nicht. Vergeben ist kein emotionaler Prozess, der unabhängig vom menschlichen Willen abläuft.
Gegenüber der willentlichen Vergebung bedeutet emotionales Vergeben, die negativ unversöhnliche Haltung durch positive Gefühle zu ersetzen. Während die willentliche Vergebung ihren Schwerpunkt auf die Verhaltenskontrolle legt, zielt die emotionale Vergebung darauf ab, neben dem Denken und dem Willen auch das Gefühl mit einzubeziehen.
Da die emotionale Vergebung den Abschluss des Vergebungsprozesses bedeutet, ist es naheliegend, dass sie deutlich stärkere psychophysiologische Effekte nach sich zieht – und das gesundheitliche Wohlbefinden dadurch gesteigert wird – als die rein willentliche Vergebung.
Hier ist aber wichtig festzuhalten, dass Verzeihen nicht heißt, die Verfehlungen des Täters (falls es solche gibt) auch tatsächlich gutzuheißen. Viele Patienten missverstehen das und blockieren sich so in der Opferrolle: Mit „Das kann ich niemals vergeben“ ist oft ein „Das kann ich niemals gutheißen“ gemeint.
Alice Miller, die Theoretikerin der „schwarzen Pädagogik“, also der These, dass die falsche Erziehung der Eltern für (fast) alles verantwortlich sei, geht in ihrem Buch Evas Erwachen davon aus, dass man sich davon auch lösen kann und spätestens als Erwachsener für sein Leben im Wesentlichen selbst verantwortlich ist: „Den alternden Eltern ehrlich (und nicht durch Moral erzwungen) zu verzeihen ist nur dann nicht schwer, wenn man sich mehrmals erlaubt hat, die Not, die sie uns bereitet haben, zu fühlen, diese ernst zu nehmen und das Ausmaß der erfahrenen Grausamkeit zu erfassen.“
In der Tat, Verzeihen kann niemals Bagatellisieren heißen, kann aber durchaus ein Verstehen der damaligen Ohnmacht der Eltern beinhalten, das dann leichter fällt, wenn man plötzlich bei seinen eigenen Kindern vor derselben Situation steht. Immer wieder erlebt der Psychiater Aha-Erlebnisse, wenn der Patient plötzlich erkennt, dass die von ihm kritisierten Eltern zum Zeitpunkt der „Tat“ (oder Unterlassung) jünger waren, als er jetzt aktuell ist. Damit hat er sich von der phantasierten Allmacht zurück in die Fehlerhaftigkeit des Menschlichen geholt.
Alice Miller betont, dass auch im Verzeihungsprozess das Böse nicht gut genannt werden muss: „So wird ihr mit der Zeit die Verzeihung möglich sein, aber nicht die Verzeihung wird diese jungen Mütter befreien, sondern die Tatsache …, dass sie die Wahrheit nicht leugnen müssen, dass sie das Böse als Böses erkennen dürfen.“ Die Holocaust-Überlebende Eva Mozes Kor, die ein Opfer der Menschenversuche des KZ-Arztes Josef Mengele war, stellte in einem Interview überraschend klar: „Ich erlebe es als befreiend, den Tätern zu vergeben.“
Tatsächlich kann der ewige Groll eine schwere Last werden, weil er den eigenen Handlungsspielraum einengt. In der Praxis sieht man häufig, dass der psychodynamische Prozess der Vergebung ermöglicht, ein verbitterndes, in diesem Fall sogar traumatisierendes Erlebnis in der eigenen Biographie so einzuordnen und zeitlich abzuschließen, dass man für eine neue Lebensphase und neue Lebensthemen – für neue Grundannahmen – offen und frei wird. Der Soziologe Harald Welzer von der Uni Witten-Herdecke beobachtet, dass „die Ideologie des Durcharbeitens und Konfrontierens den Opferstatus festschreibt, obwohl sie ihn zu beseitigen vorgibt“. Hier kritisiert er eine Fehlentwicklung innerhalb der Psychotherapie, die Traumatisierungen überlang wiederkäuen will, ohne loslassen zu können. Oft wird in jahrelangen Therapien nicht einmal die erste Stufe des Verstehens erreicht.
Worthington stellt anhand der wissenschaftlichen Datenlage fest, dass die Hauptwirkung der Forgiveness darin besteht, die Unversöhnlichkeit zu reduzieren. „Unversöhnlichkeit ist ein missgönnendes, rachsüchtiges, feindliches, bitteres, übelnehmendes, verärgertes, ängstliches und depressives Grübeln. Sie ist direkt mit dem Faktor der subjektiv erlebten Ungerechtigkeit assoziiert.“
 Im Grunde bezeichnet die „Unversöhnlichkeit“ im angloamerikanischen Raum also genau dasselbe wie der Begriff der Verbitterung im deutschsprachigen Raum. Verbitterung ist eben genau missgönnend, rachsüchtig, feindlich, bitter, übelnehmend, verärgert und kreist um ein subjektiv erlittenes Unrecht. Daraus lässt sich folgern, dass die Verbitterung durch Vergebungsbereitschaft reduziert werden kann. Der Dreischritt zur Vergebung – Verstehen, Wollen, Fühlen – ist demnach nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, psychotherapeutischen Einsichten und dem gesunden Menschenverstand der Königsweg aus der Verbitterung.

Auszug aus Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen. Von Raphael M. Bonelli. Besprechung siehe S. 20.

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