VISION 20003/2014
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Gibt es nicht viele Anlässe, dankbar zu sein?

Artikel drucken Appell zur Gewissenserforschung (Raphaëlle Simon)

Nie bekommt man ein „Danke“ zu hören! Wie oft ärgere ich mich über die Undankbarkeit meiner Kinder. Und dabei haben wir ihnen von früher Kindheit an beigebracht, Danke zu sagen. Ein kleines Wort, so einfach und doch inhaltsschwer…
Aber ich selbst – bin ich immer in der Verfassung, Dank zu sagen? Wieder ein Anlass, mein Gewissen zu erforschen. Nein, genau genommen fällt mir das Kritisieren leicht. Eher krrrrr als danke. Wenn ich aber auf die vergangene Woche zurückblicke, gab es da nicht Gelegenheiten, Dank zu sagen?
Etwa die Fürsorglichkeit meiner Freundin, als sie mich neben meinem Auto, das streikte, antraf. Sie ist stehengeblieben, hat mich auf ein rasches Mittagessen bei sich eingeladen und mich dann zurückgebracht, als der Pannendienst eintraf. Der gute Samariter, weibliche Ausgabe im Jahr 2011.
Oder die Aufmerksamkeit des älteren Mannes unlängst im Supermarkt. An der Kassa hat er mich gefragt: „Haben Sie nur die zwei Sachen da? Bitte, dann gehen Sie doch vor!“ Wie gut, weil ich es wirklich eilig hatte.
„Dankbarkeit ist eng verwandt mit gratis, mit Gnade,“ hält Dominique Ponnau in Célébration de la gratitude fest. Allerdings entsteht der Eindruck, dass sie uns nicht angeboren ist. Denn die schlechte Nachricht erregt mehr Aufmerksamkeit als die gute. Dankbar zu sein, erfordert fast eine gewisse Anstrengung.
Der Neuropsychiater David Servan-Schreiber hat bei sich zu Hause folgendes Ritual eingeführt: Am Abend muss jeder ein schönes Erlebnis, das er tagsüber gehabt hat, erzählen. Da kommt dann eine nette zufällige Begegnung zur Sprache, die Freude an einer gut erledigten Arbeit. Manchmal – vor allem bei den Kindern – sind es unscheinbare Kleinigkeiten: eine schöne Blume, ein Lachkrampf, super Pommes frites zu Mittag…
Wenn man es näher betrachtet, heißt das: Wer das Leben als Geschenk ansieht, entwickelt eine Haltung der Dankbarkeit für alles, was ihm zuteil wird. Wir neigen dazu, dies in unserer materialistischen Welt zu übersehen. Und dennoch ist das unser Auftrag: Nicht nur „Danke“ zu sagen, sondern dankbare Menschen zu werden. So könnten wir uns das Wort der kleinen Thérèse zu eigen machen: „Alles ist Gnade!“

Famille chrétienne v. 29. 12. 11

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