VISION 20004/2014
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Summertime und Todesangst

Artikel drucken Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen (Von Anton Wengersky)

Sommerabend am Meer. „The living is easy.“ Jimi Fritze sitzt mit Freundin bei einem Glas Wein. Dann fällt er ihr vom Stuhl vor die Füße. Im Spital sagen die Ärzte der an Jimis Bett sitzenden Freundin: Gehirnblutung. Ihr Freund werde sterben…
 
Aber Jimi könne andere Leben retten. Durch seine Organe. Ob sie die haben könnten? Die Angehörigen entscheiden sich für die Organspende und wollen sich mit den Freunden von Jimi verabschieden, bevor ihm die Organe entnommen werden. Jimi hört, wie er später im Radio erzählen wird, all diese Gespräche mit. Er wusste: Ich lebe und sie wollen mich töten. „Ich hörte, was sie sagten, und versuchte ständig, Lebenszeichen von mir zu geben. Aber es ging nicht.“
Aber Jimi hatte, anders als viele, Glück im Unglück: Ein aus dem Urlaub zurückgekehrter erfahrener Arzt erkannte, dass Fritze weder tot noch (das ist etwas anderes) „hirntot“ noch überhaupt sterbend war. So kehrte Jimi, statt unter den Händen der Ärzte als Organspender zu sterben, zurück ins eigene Leben. Und ist froh darüber. Summertime.
Ende gut, alles gut? Keineswegs. Jimi hat seelische Qualen erleiden müssen und hätte, wäre er Organspender geworden, bis zum Eintritt seines Todes noch entsetzliche körperliche Qualen erdulden müssen: durch die willentliche Schmerzzufügung und absichtlich herbeigeführten Erstickungsanfälle bei der Hirntoddiagnose. Und – grauenvolle Vorstellung – durch die bei uns in der Regel ohne Vollnarkose durchgeführte Organentnahme aus seinem lebenden Körper. In seiner Todesangst wollte Jimi seinen Lieben und den Ärzten Lebenszeichen geben und konnte es nicht.
Waren denn solche Lebenszeichen überhaupt notwendig? Jimi Fritze hatte eine Gehirnblutung gehabt. Aber sein Herz hatte nicht aufgehört zu schlagen, sein Kreislauf war intakt, er atmete (künstliches Leben gibt es nicht und künstlich beatmen kann man keine Leiche, sondern, wegen der notwendigen Mitwirkung des Körpers, nur einen untoten Leib) und Jimi schwitzte vor Angst.
Herzschlag, Atmung, Schwitzen sind Lebenszeichen, die jeder erkennen kann. Jimi hätte also an sich gar kein zusätzliches Lebenszeichen („Signs of life“) mit dem Wackeln seiner großen Zehe geben müssen, um zu signalisieren, dass er lebt.
„Signs of life“: In Fortsetzung einer noch von Papst Johannes Paul II. kurz vor seinem Tod angestoßenen wissenschaftlichen Ini­tiative hat dieser Kongress im Vatikan im Februar 2009 unter Mitwirkung von Ärzten und Geistlichen betont, für die Feststellung des Todes eines Menschen komme es weniger auf das Vorliegen von Todeszeichen an, wie Leichenstarre, Leichenflecken und Verwesung. Entscheidend seien vielmehr die Lebenszeichen, wie Atmung, Herzschlag und der noch funktionierende Kreislauf. Erst wenn diese fehlen, sei der Mensch tot. Transplantationsmediziner wollen diese Aussage nicht anerkennen. Denn erfolgreich transplantieren lassen sich nur Organe, die bis zur ärztlichen Organ­entnahme selbst vom eigenen schlagenden Herzen des Spenders durchblutet sind. Und erst die Organentnahme stoppt das schlagende Herz des Patienten.
Ärzte, die für die Organtransplantation eintreten, verweisen deshalb darauf, Organe würden nur „Hirntoten“ entnommen, bei denen das Gehirn irreversibel zerstört und damit die vom Gehirn geleistete Integration unseres Leibes zu einem lebendigen Ganzen entfallen sei. Der Leib eines „Hirntoten“ sei nur noch eine Ansammlung nicht integrierter Organe. Diese Aussage wird uns zwar auch heute noch vorgetragen, um uns als Organspender zu gewinnen, sie ist aber mittlerweile wissenschaftlich überholt.
Das bekannte „White Paper“ (Weißbuch)„Controversies in the Determination of Death“ (Kontroversen bezüglich der Bestimmung des Todes) des „President’s Council on Bioethics“ in den USA stellt dazu lapidar fest (S. 40):„The brain is not the integrator of the body’s many and varied functions (…) Integration, rather, is an emergent property of the whole organism“ (Das Gehirn ist nicht der Integrator der vielen und verschiedenen Körperfunktionen … Integration tritt vielmehr als Eigenschaft des gesamten Organismus in Erscheinung). Und Professor D. Alan Shewmon, der internationale Experte zur Hirntod-Organtransplantation betont in seiner Rede vom 21. März 2012 vor dem Deutschen Ethikrat: „Ab­schließend kann zusammenge­fasst werden, dass ein hirntoter Patient schwer geschädigt und völlig von der Hilfe anderer abhängig ist und sich in einer höchst prekären Situation befindet. Es handelt sich bei einem solchen Patienten jedoch um einen lebenden integrierten Organismus.“
Und wie steht es überhaupt mit der Feststellung des „Hirntodes“ durch die sogenannte „Hirntoddiagnose“, die den Ärzten die vollständige Zerstörung des Gehirns des Patienten anzeigen soll? Untersuchungen der Beschaffenheit des Gehirns von nach der Organ­entnahme toten Organspendern gibt es kaum. Zu sehr ist bei uns das Interesse auf die Gewinnung transplantierbarer Organe zentriert.
Neugieriger war man in den USA. Dort wurden 41 zuvor als „hirntot“ diagnostizierte Patienten nach durchgeführter Organ­entnahme obduziert, um den Zustand des Gehirns festzustellen. Zur Überraschung der Ärzte fanden sie bei der nachträglichen Obduktion dieser Organspender nur leichte Hirnschäden und nicht einen einzigen Fall von Zerstörung des Gehirns.
Der Bericht der „American Academy of Neurology“ (Neurology 70: pp 1234-1237) spricht von der unerwarteten, aber bei den Obduktionen so vorgefundenen „disappearance of total brain necrosis“ (dem Verschwinden des vollständigen Gewebstodes des Gehirns): Die angebliche Zerstörung des Gehirns – sie sollte ja durch die Gehirn­toddiagnose festgestellt werden und sie bildet die Grundlage für die Erklärung des sogenannten „Hirntods“ und die folgende tödliche Organentnahme – lag gar nicht vor. Die Zusammenfassung des Berichts der AAN kommt denn auch zu dem Schluss: „Neuropathologic exa­mi­nation is therefore not diagnostic of brain death.“ (ie neuropathologische Untersuchung ist daher nicht gleichbedeutend mit Hirntod-Diagnose).
Damit hat die AAN ihre eigene Hirntoddiagnose in Frage stellen müssen. Zugleich ist so die ärztliche Rede vom „Kriterium der Irreversibilität“ des diagnostizierten Hirntods am Ende: Denn, wo nichts zerstört ist, kann es keine Unumkehrbarkeit der gar nicht eingetretenen Zerstörung geben. Bei den 41 nach Durchführung der Organentnahme obduzierten „Hirntoten“ war jedenfalls ihr Zustand nicht deshalb irreversibel, weil ihr Gehirn zerstört war, das war es nicht, sondern weil ihnen die Organe entnommen worden waren. Ob nicht der eine oder andere von ihnen hätte weiterleben können? Wie Jimi Fritze?
Der an sich durch unsere Verfassungen, durch den hippokratischen Eid der Ärzte und durch Gottes fünftes Gebot garantierte Lebensschutz ist eben nicht auf die Zeit vom ersten Atemzug nach der Geburt bis zum letzten Atemzug eines cerebral Geschädigten beschränkt. Menschenwürde und Lebensschutz kommen, wie die deutschen Bischöfe erklärt haben, jedem Menschen unabhängig von seiner Beschaffenheit zu und sei er in seinen Lebensäußerungen noch so eingeschränkt.
Auch unser papa emeritus Benedikt XVI. wurde in der Zeit seines Pontifikates nicht müde, uns einzuprägen: Der Lebensschutz jedes Menschen muss sich vom Augenblick seiner Empfängnis bis zum Moment seines natürlichen Todes erstrecken. Dieser umfassende Lebensschutz des Menschen vom Beginn bis zum Ende seiner irdischen Existenz wird heute fast nur noch von der Katholischen Kirche vertreten. Wie schön, ihr angehören zu dürfen! Summertime.
Freilich: Sterben müssen wir alle. Doch, so gut wir können, müssen wir Jimi Fritze, ungeborene Kinder und alle, ob sie sich artikulieren können oder nicht, davor schützen, getötet zu werden. Und auch vor der Angst vor dem Getötetwerden.

Siehe auch die Artikelserie des Autors in Kirche heute (Jahrgang 2011 und 2012)

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