Es sei ein Gebot der Toleranz, keine Religion höher als die andere zu bewerten, so die vorherrschende Meinung. Dem widerspricht der Kardinal, später Papst Benedikt, in einem lesenswerten Buch. Auszüge daraus:
Über den christlichen Glauben (können wir) sagen, dass niemand ihn einfach als sein Eigenes vorfindet. Er kommt nie aus dem bloß Eigenen. Er bricht von außen ein. Das bleibt immer so. Niemand wird als Christ geboren, auch nicht in einer christlichen Welt und von christlichen Eltern. Immer kann sich Christentum nur als neue Geburt ereignen (…).
Vor allem Romano Guardini hat auf einen wichtigen Aspekt dieser Grundfigur des christlichen, ja des biblischen Glaubens verwiesen, der nicht aus dem eigenen Inneren aufsteigt, sondern uns von außen zukommt: Das Christentum, der christliche Glaube, so sagt er uns, ist nicht Produkt unserer inneren Erfahrungen, sondern Ereignis, das von außen her auf uns zutritt.
Der Glaube beruht darauf, dass uns etwas (oder jemand) begegnet, an das unsere Erfahrungsfähigkeit von sich aus nicht heranreicht. Nicht Erfahrung weitet sich aus oder vertieft sich – das ist bei den streng „mystischen“ Modellen der Fall; sondern es geschieht etwas. Die Kategorien „Begegnung“, „Andersheit“ (Lévinas: „altérité“), „Ereignis beschreiben den inneren Ursprung des christlichen Glaubens und verweisen auf die Grenzen des Begriffs Erfahrung.
Freilich, was uns da berührt, bewirkt in uns Erfahrung, aber Erfahrung als Frucht eines Ereignisses, nicht einer Vertiefung ins Eigene. Genau dies ist mit dem Begriff Offenbarung gemeint: Das Nicht-Eigene, im Eigenen nicht Vorkommende, tritt auf mich zu und reißt mich aus mir heraus, über mich hinaus, schafft Neues.
Damit ist auch die Geschichtlichkeit des Christlichen gegeben, das auf Ereignissen beruht und nicht auf der Wahrnehmung der Tiefe des eigenen Inneren, die man dann „Erleuchtung“ nennt. Trinität ist nicht Gegenstand unserer Erfahrung, sondern etwas, was von außen gesagt werden muss, als „Offenbarung“ von außen her an mich herantritt. Das gleiche gilt von der Menschwerdung des Wortes, die eben ein Ereignis ist und nicht in innerer Erfahrung gefunden werden kann.
Dieses Zukommen von außen ist für den Menschen skandalös, der nach Autarkie und Autonomie strebt; es ist für jede Kultur eine Zumutung: Wenn Paulus sagt, das Christentum sei für die Juden ein Skandal, für die „Völker“ Torheit (1Kor 1,23), so will er damit eben dies Eigentümliche des christlichen Glaubens ausdrücken, der für alle „von außen“ kommt. Aber gerade dieser neue Eingriff, der unseren Erfahrungsraum, unser Bewusstsein der Identität mit allem durchbricht, führt uns in die Weite der größeren Wirklichkeit und eröffnet uns gerade so auch die Möglichkeit, den Pluralismus zu überwinden und zueinander zu kommen.
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Die Einzigkeit Christi ist an die Einzigkeit Gottes gebunden und deren konkrete Gestalt. Christus ist nicht (…) eine der vielfältigen endlichen Erscheinungsformen des Göttlichen, in denen wir das Unendliche zu erahnen lernen. Er ist nicht eine „Erscheinung“ des Göttlichen, sondern Er ist Gott. In Ihm hat Gott sein Gesicht gezeigt. Wer Ihn sieht, hat den Vater gesehen (Joh 14,9). Hier kommt es wirklich auf das „ist“ an - es ist die eigentliche Unterscheidungslinie der Religionsgeschichte und gerade so auch die Kraft ihrer Vereinigung. (…) Von da aus sind zuletzt noch zwei Grundbegriffe des christlichen Glaubens zu verstehen, die heute geradezu zu verbotenen Wörtern geworden sind: Bekehrung (conversio) und Mission. Heute ist die Meinung fast allgemein geworden, dass man mit Bekehrung nur Umbrüche des inneren Weges, nicht aber den Übergang von einer Religion zur anderen, also auch nicht den Übergang zum Christentum verstehen dürfe. Die Vorstellung der letzten Äquivalenz aller Religionen scheint ein Gebot der Toleranz und der Achtung vor dem anderen zu sein; wenn es so ist, muss man zwar den Entscheid des einzelnen respektieren, der sich zu einem Religionswechsel entschließt, aber Bekehrung darf man dies nicht nennen: Das würde ja dem christlichen Glauben einen höheren Rang einräumen und damit dem Gleichheitsgedanken widersprechen.
Der Christ muss dieser Gleichheitsideologie widerstehen. Nicht als ob er sich selber zu etwas Höherem machen würde - keiner ist Christ aus sich selbst, sagten wir; jeder ist es nur durch „Bekehrung“. Aber dies freilich glaubt der Christ, dass uns der lebendige Gott in Christus auf eine einzigartige Weise ruft, die Gehorsam und eben Bekehrung verlangt. Vorausgesetzt ist dabei, dass im Verhältnis der Religionen die Wahrheitsfrage eine Rolle spielt und dass die Wahrheit für jeden eine Gabe und für niemanden Entfremdung ist. (…) Damit ist auch schon das Wesentliche zum Begriff „Mission“ gesagt. Wenn die prinzipielle Gleichheit der Religionen gilt, dann kann Mission nur eine Art von religiösem Imperialismus sein, dem man widerstehen muss. Wenn uns aber in Christus eine neue Gabe, die wesentliche Gabe – Wahrheit – geschenkt ist, dann ist es Pflicht, sie auch dem anderen anzubieten, in Freiheit natürlich, denn anders kann Wahrheit nicht wirken und Liebe nicht sein.
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Auch Religionen, denen man sittliche Größe und das Unterwegssein zur Wahrheit zuerkennen muss, können streckenweise erkranken. Im Hinduismus (der eigentlich ein Sammelname für vielfältige Religionen ist) gibt es großartige Elemente, aber auch negative Aspekte – die Verflechtung mit dem Kastensystem; die Witwenverbrennung, die sich aus anfangs symbolischen Vorstellungen herausgebildet hatte; Auswüchse des Shaktismus wären zu nennen, um nur ein paar Hinweise zu geben. Aber auch der Islam mit allem Großen, das er darstellt, ist immer wieder in Gefahr, die Balance zu verlieren, der Gewalt Raum zu geben und die Religion ins Äußerliche und Ritualistische abgleiten zu lassen. Und natürlich gibt es auch, wie wir alle nur zu gut wissen, Erkrankungsformen des Christlichen - etwa wenn Kreuzritter bei der Eroberung der Heiligen Stadt Jerusalem, in der Christus für alle Menschen gestorben ist, ihrerseits ein Blutbad unter Moslems und Juden anrichteten.
Das bedeutet Religion verlangt Unterscheidung, Unterscheidung zwischen Gestalten der Religionen und Unterscheidung im Inneren der Religion selbst, auf ihre eigentliche Höhe hin. Mit der Vergleichgültigung der Inhalte und der Idee, dass alle Religionen unterschiedlich und eigentlich doch gleich seien, kommt man nicht weiter. Der Relativismus ist gefährlich, ganz konkret – für die Gestalt des Menschseins im einzelnen und in der Gemeinschaft. Die Absage an die Wahrheit heilt den Menschen nicht. Wie viel Böses in der Geschichte im Namen guter Meinungen und Absichten geschehen ist, kann niemand übersehen.
Damit berühren wir schon den zweiten Punkt, der gemeinhin vernachlässigt wird. Wenn man von der Heilsbedeutung der Religionen spricht, denkt man erstaunlicherweise meistens nur daran, dass alle das ewige Leben ermöglichen, womit freilich zugleich der Gedanke an das ewige Leben neutralisiert wird, denn man kommt ohnedies dorthin. Aber damit ist die Heilsfrage in einer unangemessenen Weise verkürzt.
Der Himmel beginnt auf der Erde. Das Heil im Jenseits setzt das rechte Leben im Diesseits voraus. Also kann man gar nicht einfach fragen, wer in den Himmel kommt und sich damit zugleich der Frage nach dem Himmel entledigen. Man muss fragen, was der Himmel ist und wie er auf die Erde kommt. Die jenseitige Rettung muss sich abzeichnen in einer Lebensform, die den Menschen hier „menschlich“ und damit gottgemäß macht.
Das bedeutet wiederum, dass man bei der Heilsfrage über die Religionen selbst hinausblicken muss und dass dazu Maßstäbe rechten Lebens gehören, die nicht beliebig relativiert werden können. Ich würde also sagen: Das Heil beginnt im Rechtwerden des Menschen in dieser Welt, das immer die beiden Pole des einzelnen und der Gemeinschaft umfasst. Es gibt Verhaltensformen, die niemals dem Rechtwerden des Menschen dienen können, und solche, die immer zum Rechtsein des Menschen gehören. Das bedeutet: Das Heil liegt nicht in den Religionen als solchen, sondern es hängt mit ihnen zusammen, sofern und soweit sie den Menschen auf das eine Gute, auf die Suche nach Wahrheit und Liebe bringen.
Auszüge aus: Glaube Wahrheit Toleranz – Das Christentum und die Weltreligionen. Von Joseph Kardinal Ratzinger. © Herder Verlag Freiburg 2003, 220 Seiten, 16,90 Euro