VISION 20004/2015
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Abtreibungsüberlebende

Artikel drucken Kinder aus Familien, in denen Abtreibungen stattgefunden hatten (Marie Meaney)

Die Traumata derer, die Naturkatastrophen, Kriege oder Völkermord überlebt haben, werden heutzutage weitläufig anerkannt. Geschieht dies nicht, so empfinden die Überlebenden ihr Leid umso schlimmer. Wenn sie sich aber selbst nicht mehr als Opfer erkennen, dann ist ihre Situation hoffnungslos.
Die Lage von sexuell miss­brauchten Kindern, deren Täter beschützt werden, ist der von Abtreibungsüberlebenden sehr ähnlich, nur dass das Leid Letzterer heutzutage praktisch unbekannt ist. Dadurch wird das an Ihnen verübte Verbrechen bagatellisiert, seine Furchtbarkeit verneint und zur alltäglichen Normalität reduziert. Das Böse wird banal.
In ihrem ausgezeichneten Buch Abtreibungsüberlebende lassen Dr. Philip Ney und Dr. Marie Peeters-Ney sie zu Wort kommen. Sie gehen in ihrer Forschungsarbeit der Frage nach, was in Kindern vorgeht, die in einer Familie aufwachsen, in der es zu einer oder mehreren Abtreibungen gekommen ist. Ihr Buch vereint, wie der Herausgeber in seinem Vorwort zu Recht sagt, „seriöse Wissenschaftlichkeit und tiefempfundene Mitmenschlichkeit“.
Philip Ney war einer der ersten, der das Syndrom des PASS („Post-Abortion Survivor Syndrome“) entdeckt, dessen Symptome aufgelistet und Therapieansätze entwickelt hat.
Abtreibungsüberlebende sind oftmals Menschen, die folgende Symptome zeigen: Sie fühlen sich wertlos, können anderen nicht trauen, haben Bindungsängste, sind zynisch, unreif und bringen sich leicht in Suchtabhängigkeiten. Die Tatsache, dass Geschwister abgetrieben worden sind, merken die überlebenden Kinder dabei häufig intuitiv – sie ahnen, dass jemand fehlt.
Ihren Eltern können sie nicht vertrauen, denn diese hätten auch sie töten können. Über ihnen schwebt, bewusst oder unbe­wusst, das Damoklesschwert des „Erwünschtseins“. Daher ihr Zynismus als Reaktion, denn die sogenannte elterliche Liebe war in Wirklichkeit mörderisch. Daher ihr unbändiges Verlangen nach Anerkennung und weiterem Erwünschtsein, die Sucht, „politisch korrekt“ zu sein, um so ihren fragilen Status des Erwünschtseins nicht zu gefährden.
Und schließlich die spirituelle Konsequenz: Das Misstrauen Gott gegenüber, was umso tragischer ist, weil nur Er ihnen das Bewusstsein unbedingter Liebe und eines absoluten Gewolltseins, trotz elterlichen Versagens, geben kann. Ist es nicht verständlich? Sie haben Angst, Bindungen einzugehen und Verantwortung zu übernehmen, denn auf wen können sie zählen, wenn ihre eigenen Eltern sie hätten töten können? Eine solche Wirklichkeit ist unerträglich, und die Sucht als Ausweg – in welcher Art auch immer – in vielen Fällen programmiert.
Das „Survivor-Syndrome“ ist schon lange bekannt, aber erst durch Neys Pionierarbeit auch bei Abtreibungsüberlebenden diagnostiziert worden. Wie das Ehepaar Ney aufzeigt, gibt es viele (zehn bzw. elf) Formen von Abtreibungsüberlebenden. Manchmal wird der Zwilling abgetrieben oder ein anderes Geschwister oder es wird abgewogen, ob ein ungeborenes Kind geboren werden soll oder nicht. Manche Kinder leben nur, weil ihre Mütter zu spät von ihrer Schwangerschaft erfahren haben.
Die erwünschten Kinder einer in-vitro Fertilisation wiederum verdanken ihr Leben der Tatsache, dass sie gesünder als ihre Geschwister waren. In den Ländern, wo Abtreibung weitverbreitet ist, ist der Anteil der Traumatisierten sehr hoch. In China mit seiner Ein-Kind-Politik sind vermutlich 85% der bis-35-Jährigen solche Überlebende. Aber selbst in Nordamerika beläuft sich die Zahl auf schätzungsweise 70 %.
Eine Gesellschaft, die sich in der Mehrzahl aus Traumatisierten zusammensetzt, muss dysfunktional sein. In Anbetracht des hohen Anteils von Abtreibungsüberlebenden ist es erstaunlich, dass das gesellschaftliche Gefüge noch zusammenhält. Aber das Ärztepaar Ney gibt sehr wohl zu bedenken: Auch menschliche Ökologien sind nicht unbegrenzt zu missbrauchen.
Das gesellschaftliche Gefüge bricht irgendwann zusammen, wenn nicht rechtzeitig der Weg der Umkehr beschritten wird, und das heißt in diesem Zusammenhang zunächst: Wenn nicht auf der Stelle dem unseligen Gerede von „Wunschkindern“ ein Ende gemacht wird und stattdessen die Würde eines jeden Lebens wieder maßgeblich ist, also die Wahrheit, dass jedes Kind ein Wunschkind ist.
„Die Wahrheit war noch nie populär“, so die Neys. Aber die Wahrheit kommt stets ans Licht. Abtreibungsüberlebende sind ein sichtbares Zeichen, wie es wirklich um uns steht.

Abtreibungsüberlebende. Von Philip G. Ney & Marie A. Peeters-Ney, Paperback, 160 Seiten. 8 Euro. 12 CHF.
ISBN-13: 978-3-9503846-0-4.
Zu bestellen beim Immaculata-Verlag: office@immaculata.at

 

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