VISION 20004/2016
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Wunderbare Abende mit der Großmutter

Artikel drucken Ihr Glaube als Erbe (Sophia Benedict)

Der beste Mensch in meinem Leben war meine Großmutter. Allerdings war mir das nicht bewusst. Erst als sie uns für immer verlassen hatte, spürte ich die Leere in meinem Herzen. Ich war damals zwölf, meine Großmutter 53.

Ihr war ein schweres Schicksal beschieden: Kurz vor dem Weltkrieg, dem Großen Vaterländischen Krieg, wie die Russen sagen, hatte sie ihren Mann verloren. Während des Krieges musste sie mit ihren drei Kindern aus der von den Deutschen besetzten Ukraine nach Kasachstan fliehen. Dort ist ihre Tochter, die jüngere Schwester meiner Mutter, tragisch ums Leben gekommen. Das Porträt eines schönen Mädels mit langen schwarzen Zöpfen hing in unserer Kinderstube. Ich erinnere mich an Großmutters traurige Augen, wenn Sie dieses Porträt ansah.
Als sie nach dem Krieg heimkehrte, stellte sie fest: Ihr Haus war total zerstört worden. Seitdem hatte sie kein Eigenheim. So lebte sie abwechselnd mit uns oder mit der Familie ihres Sohnes.
Mein Onkel hatte zwei Kinder. Manchmal verbrachten mein Bruder und ich bei ihnen die Ferien. Was für wunderbare Abende erlebten wir im winzigen Häuschen meines Onkels! Wir spielten Scharaden, lasen Gedichte vor, sangen Lieder. Die Großmutter erzählte uns Märchen. Wie viele Geschichten kannte sie doch! Sie flocht sie wie die Spitzen. Sie war noch dazu eine begabte Handarbeiterin, zusammen mit ihr bastelten wir Puppen, Blumen, lustige Tiere. Sie langweilte sich nie mit Kindern.
Großmutter hatte eine wunderschöne Stimme, und sie sang sehr gern. Eines ihrer Lieblingslieder, das Lied von Kudejar, dem Anführer einer Bande von zwölf Räubern, hat mch seither begleitet. Es war nicht nur ein Lied, es war eine Philosophie. Es ging um einen grausamen Räuber, der viel Blut von ehrlichen Christenmenschen vergossen hatte. Einmal aber geschah ein Wunder: Gott erweckte das Gewissen des grimmigen Räubers. Daraufhin bereute Kudejar seine Taten und trat in ein Kloster ein – um Gott und den Menschen zu dienen. Sein restliches Leben widmete er der Sühne für seine Sünden.
Was erzählt mir dieses Lied?
In unserer Welt begegnen wir vielem Übel. Das schaffen die Menschen. Kinder wissen das genauso so gut wie Erwachsene. Die Bösen zu bestrafen, das schreibt das Gesetz vor. Aber wird die Welt deswegen besser? Und ob die Guten sich nicht auch in Böse verwandeln, wenn sie die Waffen der Rache in die Hand nehmen? Nicht umsonst endet dieses Lied mit den wunderschönen Worten: „Für Kudejar, den Anführer, werden wir zu Gott beten.“
Ich denke, dass man nur auf jenen Tropfen von Edelmut hoffen kann, der sogar in den grausamen Herzen lebt. Nur Gott kann das Gewissen in den harten Herzen wecken! Nur erwachte Gewissen können unsere Welt vor der Zerstörung retten.
Daran glaubte meine Großmutter, ihr Glaube kam auch auf mich zu.
Er ist das beste Erbe, das sie mir hinterlassen hat.
 


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