VISION 20006/2016
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Aussteigen aus der Tretmühle

Artikel drucken Still vor Gott werden als Überlebensrezept in schwierigen Zeiten (Christof Gaspari)

Wirkliche Stille ist selten gewor­den, jedenfalls in unseren Brei­tegraden: Straßen- oder ferner Autobahnlärm, das Rauschen der Großstadt als Hintergrundgeräusch, in der Ferne vorbeifahrende Züge, das Telefongespräch der Nachbarin in der U-Bahn, das Handy, das ein SMS ankündigt, die ununterbrochene Musikberieselung in Geschäften und Lokalen…

Aber selbst wenn all die Umgebungsgeräusche ausgeschaltet sein sollten: Die eigenen Gedanken, die man zwar zu unterdrücken sucht, wegschiebt, um endlich innerlich zur Ruhe zu kommen, bleiben erhalten…  Woher kommt dieses Phänomen?
Wenn ich mich selbst betrachte und mich in meiner Umgebung umschaue, stelle ich fest: Die wenigsten Menschen strahlen Ruhe aus. Die meisten sind mit Sorgen beladen, stehen unter Zeitdruck, müssen noch dieses oder jenes erledigen, greifen dauernd nach dem Smartphone, verbringen Stunden in Facebook oder surfen im Internet, können sich nur vor dem Fernseher entspannen… Einmal wirklich nichts zu tun, mit sich selbst allein zu sein, fällt den meisten von uns schwer.
Nur wer aktiv ist, scheint ein wertvoller Zeitgenosse zu sein: wer produziert oder konsumiert. Das hat damit zu tun, dass uns seit Jahrzehnten eingebläut wird, das Heil des Menschen hinge vom Wohlergehen der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, ab. Alle Bemühungen richten sich daher auf die Perfektionierung dieses anonymen Apparates. Er wird immer komplexer, immer undurchschaubarer. Er steuert immer mehr Bereiche unseres Lebens, intensiviert die weltweite Verflechtung aller Bereiche, verbindet alles mit allem, jeden mit jedem.
Genaugenommen baut unsere Elite an einer nur vom Menschen gemachten, möglichst vollständig durchorganisierten, beherrschbaren Welt. Wo Pannen passieren, müsse man aus Erfahrungen lernen und entsprechende Systemanpassungen vornehmen. „Wir schaffen das!“ Die Schöpfung: scheinbar grenzenlos zur Neugestaltung verfügbar.
Aufgabe des einzelnen ist es, in diesem System gut zu funktionieren – als Produzent und als Konsument. In beiden Bereichen ist Aktivität gefordert. Sie bestimmt den Lebensstil einer Gesellschaft, die eine Welt vollkommen ohne Gott baut. Sie misst nur dem Bedeutung zu, was das System weiterzubringen scheint.
Daher die um sich greifende Rastlosigkeit, die jeder beobachten kann, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Sie wird auch die kommende Adventzeit prägen, wenn sich die Massen durch die Shopping-Centers drängen und an Punschständen in Stimmung bringen, um den Erwartungen der Wirtschaft: wieder ein Umsatzplus von 5%, gerecht zu werden.
Zu dieser Rastlosigkeit gesellt sich die wachsende Verunsicherung durch Entwicklungen, die vielen bedrohlich erscheinen: die wachsende Arbeitslosigkeit, die Steigerung der Lebenshaltungskosten, vor allem aber die massive Zuwanderung von Menschen mit fremdem kulturellen Hintergrund. Die erkennbare, jedoch abgeleugnete Unfähigkeit der Eliten, mit diesen Problemen zurechtzukommen, macht vielen Angst. Werden wir uns die Wohlstandsverheißungen auch in Zukunft leisten können?
Diese Frage steht ebenso im Raum wie die Sorgen, die sich aus den fortgesetzt instabileren zwischenmenschlichen Beziehungen ergeben: Ehen, die nicht halten, Kinder, die den Vater durch Scheidung verlieren, allein lebende alte Leute, die sich fragen: Wie geht es weiter mit mir, wenn ich krank oder gar pflegebedürftig bin? Sorgen über Sorgen…
Keine Frage: Aktivismus, Ängstlichkeit und Sorgen hat es immer gegeben. Aber sie treffen heute Menschen, die keine Ahnung mehr davon haben, dass über all unserem menschlichen Bemühen und Sorgen es einen liebenden Vater im Himmel gibt, bei dem wir immer und überall Zuflucht nehmen können. Romano Guardini beschreibt das in seinem Buch Das Ende der Neuzeit so: „Der neuzeitliche Mensch verliert weithin nicht nur den Glauben an die christliche Offenbarung, sondern erfährt auch eine Schwächung seines natürlichen religiösen Organs, so dass er die Welt immer mehr als profane Wirklichkeit sieht. Das hat aber weittragende Konsequenzen.“
Die gottferne Welt unserer Tage ist das Grundproblem, die Welt, die Gott systematisch eliminiert und einen neuen Menschentyp schafft, der rastlos, fortgesetzt besorgt um sein selbstgewirktes Heil kreist.
Die Gottlosigkeit der Welt stellt die Menschheit vor eine existenzielle Bedrohung. Kardinal Karol Wojtyla hat sie schon 1976 in einer Ansprache vor der amerikanischen Bischofskonferenz angesprochen:
„Wir stehen jetzt vor der größten Konfrontation, die die Menschheit in ihrer Geschichte jemals erlebt hat. Ich denke nicht, dass der Großteil der amerikanischen Gesellschaft oder die gesamte Christenheit dies in vollem Umfang realisiert. Wir stehen jetzt vor dem Endkampf zwischen der Kirche und der Anti-Kirche, zwischen dem Evangelium und dem Anti-Evangelium, zwischen Christus und dem Antichrist. (…) Es muss ein Kampf sein, den die Kirche aufnimmt und tapfer bestreitet. (…) Wir müssen uns darauf vorbereiten, bald große Prüfungen zu durchleiden, die uns die Bereitschaft abverlangen werden, selbst das Leben hinzugeben und die eine totale Hingabe an Christus und für Christus verlangen werden. “
In der gottfernen Welt überlebt als Christ nur, wer sich um die „totale Hingabe an Christus“ bemüht. Und diese geschieht in der Stille. Sie setzt voraus, dass wir lernen, Abstand zu nehmen von all dem, was uns bedrängt und uns auf uns selber zurückwirft.
Es ist zweifellos nicht leicht aus der Tretmühle von Hetze, Sorgen, Stress und Ängsten auszubrechen. Für Christen aber wird es zunehmend überlebenswichtig. Braves Christsein aus Tradition wird dem Verschleiß voraussichtlich nur schwer standhalten können. Der Herr Jesus selbst warnt vor der Situation, in der die Gottlosigkeit überhandnimmt, denn dort werde bei vielen die Liebe erkalten (vgl Mt 24,12). Und diese bedrohte, für menschliches Zusammenleben aber notwendige Liebe kann nur vom Herrn selbst neu entflammt werden – und zwar in der persönlichen Begegnung mit Ihm, in der Zeit, die wir Ihm ganz widmen, in der Stille.
Ich weiß, wie schwer es ist, aus dem üblichen Trubel auszusteigen. Denn da verfolgen mich die eigenen Gedanken: Zwar versuche ich sie zu unterdrücken, wegzuschieben, um ernsthaft innezuhalten… Aber nach kürzester Zeit sind sie wieder da, lösen einander in kaum kontrollierbarer Hetze ab. Also greife ich zum Rosenkranz: Vater unser im Himmel… Gegrüßet seist Du, Maria… der in den Himmel aufgefahren ist… – und schon bin ich wieder beim unterbrochenen Gedanken. Dabei wäre doch jetzt die Betrachtung des Geheimnisses der Himmelfahrt des Herrn angesagt gewesen…
Wie lange dauert es doch, innerlich wirklich zur Ruhe zu kommen! Jedenfalls, wenn jemand ein Mensch ist, der so wie ich meint, dauernd irgendwelche Aufgaben erfüllen, Termine einhalten, Erwartungen gerecht werden zu müssen. Umso befreiender sind dann aber jene Momente, in denen all das, was mich Tag für Tag begleitet, langsam in den Hintergrund rückt, und die eigenen Gedanken zu schweigen beginnen. Am besten gelingt es in der stillen Anbetung vor dem Allerheiligsten.
Besonders gern erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an Exerzitien mit indischen Priestern und die lange Nachtanbetung vor dem ausgesetzten Allerheiligsten: Da war plötzlich das verwirklicht, was der Bauer von Ars (siehe S. 6-7) auf die Frage, was er denn so lange in der Kirche sitzend täte, zur Antwort gab: „Er schaut mich an – und ich schaue Ihn an…“


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