VISION 20003/2017
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Vergeben heilt das Gedächtnis, löscht jedoch nicht die Erinnerungen aus

Artikel drucken (Christine Ponsard)

Es gibt Unrecht, das man nicht vergessen kann. Man kann vom Opfer eines Attentats oder von Eltern, deren Sohn ermordet worden ist, nicht verlangen, das Leid, das ihnen zugefügt worden ist, zu vergessen – und auch nicht den, der es verschuldet hat. Es ist normal – ja durchaus gesund –, dass man sich in Erinnerung ruft, was man durchgemacht hat. Und man kann auch auf dem Recht bestehen, dass dies nicht in Vergessenheit gerät. In manchen Fällen spricht man sogar von der Pflicht zur Erinnerung. Heißt das, dass es etwas Unverzeihliches gibt?
Erlittenes Unrecht zu vergessen, liegt nicht in unserer Verfügungsmacht. Wir können nicht beschließen, etwas auszulöschen, auch wenn uns das recht wäre. Diese Erfahrung machen wir alle: Es gibt schwere oder leichte Verletzungen, die wir gern vergessen würden,  die dennoch im Gedächtnis haften.
Sind wir also unfähig, wahrhaft zu vergeben, wenn sich unser Gedächtnis weigert, Schwamm drüber zu machen?
„Die Auferstehung lässt die Passion nicht in Vergessenheit geraten,“ stellte Kardinal Jean-Marie Lustiger einmal fest. Und genauso wenig sind Vergeben und Vergessen gleichbedeutend. Wenn Erinnerungen an erlittenes Unrecht wieder wach werden, meinen viele, dies sei ein Zeichen dafür, dass sie nicht vergeben hätten. Man kann aber ein Ereignis, das Schmerzen bereitet hat, nicht vergessen. Denn die Erinnerung hat etwas mit dem Gedächtnis zu tun – die Vergebung aber mit dem ernsten Willen. Das ist nicht dasselbe.
„Das Zeichen dafür, dass wir von Herzen und ganz vergeben haben, und dass diese Vergebung angekommen ist, besteht darin, dass wir uns zwar nach wie vor erinnern, dass uns dies jedoch nicht mehr zerstört, nicht mehr unser Leben ruiniert.“ So Simone Pacot in L’Évangelisation des profondeurs. (…)
Wer vergibt, muss sich erinnern können. Die Vergebung besteht nicht darin, die Verletzung zu leugnen oder so gut wie möglich zu verstecken. Im Gegenteil: Um vergeben zu können, muss man sich zunächst bewusst machen, dass man verletzt worden ist.
Warum aber soll man scheinbar vergessene Verletzungen wieder ins Bewusstsein heben? Weil sie, solange sie nicht vergeben sind, wie Eiterherde wirken, die ihr Gift verbreiten. Wie viele in der frühen Jugend erlittene Wunden belasten doch die Familienbeziehungen, obwohl man dachte, sie seien längst geheilt! Es ist die Vergebung, die unser Gedächtnis heilt, indem sie uns Frieden schenkt. So wird die Erinnerung an das erlittene Leid ein Weg des Lebens und des Segens, wo sie doch ein Weg des Todes und Fluches war. Die Vergebung ist wahrhaft Auferstehung: vom Tod zum Leben.
Famille Chrétienne  v. 8.8.98


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