VISION 20001/2019
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Den jeweiligen Augenblick nutzen: Er ist Ort der Gottesbegegnung

Artikel drucken (P. Philippe Raguis)

Der jeweilige Augenblick ist der Raum, in dem wir die Zeit, die uns entgegenkommt, erleben. Wir nehmen ein Fließen und Veränderungen wahr, gleichzeitig aber auch ein Fortdauern. Es gibt die Zeit der Uhren und die erlebte, gefühlte Zeit. Im Leiden und beim Warten können Minuten endlos erscheinen. Und Tage können wie im Flug vergehen. Und all das besteht aus Augenblicken, die zwischen dem Vergangenen und dem Künftigen fast nicht wahrgenommen werden.
Der je gegenwärtige Moment ist das, was ich jetzt lebe, aber kaum habe ich ihn gespürt, scheint er schon vergangen. Und dabei ist nur er für mich jetzt real: Das Vergangene ist nicht mehr, das Künftige noch nicht da. Ich lebe ausschließlich in der Gegenwart – und dennoch entgeht mir dieses Jetzt, weil mich die Flut der Gefühle, der Gedanken, der Ereignisse mitreißt.
Um in der Gegenwart zu leben, muss man innehalten, achtgeben, sich um bewusstes Erleben bemühen. Das fällt uns schwer, weil unser Dasein sich allzu oft nur irgendwie ereignet – fast so, als würden wir neben uns stehen: durch das Wiederkäuen von Erinnerungen, bedauerlichen oder bitteren, oder aber eingetaucht in das Künftige mit seiner Fülle von Sorgen und Hoffnungen.
Das Vergangene und das Zukünftige haben etwas gemeinsam: Sie bieten uns keinen Zugriff auf das gegenwärtige Tun…
Gott ist nicht im jetzigen Augenblick. Einfach gesagt: Gott ist. Wir sind es, die Ihn erreichen können, eben im jeweiligen Augenblick. Wenn wir uns darum bemühen, uns Gott zuzuwenden, entdecken wir, dass Er uns eben jetzt das Leben, die Veränderung, das Sein schenkt. Gott ist immer gegenwärtig, Er wirkt. Der jeweilige Augenblick ist der uns geschenkte Raum, um mit Ihm in Beziehung, in Kommunion zu treten.
Dieser Moment ist der Berührungspunkt zwischen der Zeit, die vergeht, und der Ewigkeit. So ist der jeweilige Augenblick der Ort einer Begegnung, eines Bundes, eines Dialogs.  Gott ruft mich, Er wartet auf mich, gibt mir einen Auftrag.
Am Beginn des 18. Jahrhunderts pflegte Père de Caussade zu sagen, dass der gegenwärtige Augenblick der Gesandte sei, der uns die Botschaften Gottes zutrage. Und der hl. Franz von Sales erinnert uns daran, dass uns in jedem Moment eine Anordnung Gottes aus der Ewigkeit zukomme und dorthin zurückkehre mit der Antwort, die wir gegeben haben…
Ich glaube daran, dass Gott jetzt und hier in meinem Leben gegenwärtig ist, was immer auch meine Beschäftigung sein mag… Gott ist da, hier bei mir, in mir und alles, was es auch sein mag, kann ich mit Ihm erleben.

P. Philippe Raguis ist Karmelit in Toulouse. Diese Gedanken äußerte er in einem Interview mit Bénédicte de Saint-Germain für Famille Chrétienne v. 1.-7.12.18

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