VISION 20005/2020
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Der selige Josef Mayr-Nusser

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Dom Antoine-Marie OSB)

Die bereits seit 35 Jahren verwitwete Südtirolerin Hildegard Mayr-Nusser erhielt 1980 unerwartet einen Brief von Fritz Habicher, einem ehemaligen deutschen Soldaten; er schrieb: „Ihr Mann starb für Christus, des bin ich mir sicher. Ich bin überzeugt, dass ich 14 Tage mit einem Heiligen gelebt habe, der für mich heute ein großer Fürbitter bei Gott ist.“ Der frühere SS-Mann Habicher hatte einen Transport zu Tode verurteilter Häftlinge quer durch Deutschland begleitet. Unter ihnen war auch Josef Mayr-Nusser, der sich geweigert hatte, einen Treue-Eid auf Hitler zu leisten; er kam nie am Ziel an, sondern starb unterwegs an Erschöpfung. Sein Märtyrertod wurde am 8. Juli 2016 durch ein Dekret der römischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse offiziell bestätigt.
Josef wurde 1910 in der Nähe von Bozen geboren. Sein Vater fiel bereits im Jahr 1915 an der Front. Seine Mutter Maria führte fortan den Hof der Familie. Obwohl sie durch die Erziehung ihrer sechs Kinder sowie die Arbeit auf dem Hof stark beansprucht war, nahm sie sich jeden Tag Zeit für den Messbesuch. Das gemeinsame Gebet und der Rosenkranz gehörten zum Alltag der Familie.
Josef, von allen Pepi genannt, war ein lebhaftes, aufgewecktes Kind und ein guter Schüler. Es mangelte ihm an praktischer Begabung für die Landwirtschaft. Da die beschränkten finanziellen Mittel der Familie ihm kein Studium gestatteten, besuchte er die Handelsschule in Bozen und verließ sie mit einem guten Abschlusszeugnis. Er war gewissenhaft, fleißig und las viele religiöse Bücher. Geistlich betreut vom Jugendseelsorger Josef Ferrari, engagierte er sich in der Katholischen Aktion und wurde deren lokaler Anführer.
1931 wurde Josef zum Militärdienst einberufen. Nach 18 Monaten Militärdienst kehrte Pepi nach Bozen zurück und begann als kaufmännischer Angestellter zu arbeiten. 1932 wurde er Mitglied der örtlichen Vinzenzkonferenz und kümmerte sich insbesondere um arme, oft alte und verwahrloste Menschen. 1937 wurde er trotz seiner Jugend zum Präsidenten einer neuen Konferenz in Bozen ernannt. In einem Vinzenzbrief teilte er seine Erfahrungen mit seinen Mitstreitern: „Das Zuhörenkönnen darf man geradezu als das Geheimnis derer bezeichnen, die am schnellsten das Herz der Armen gewinnen. In vielen Fällen ist ja der Vinzenz-Bruder fast der einzige Mensch, dem der Arme sich anvertrauen kann; wie froh sind da die meisten, wenn einer kommt, der Verständnis hat für ihre Not, der mitfühlend zuhört, wenn sie immer wieder ihr Herz ausschütten. Nehmen wir den dargebotenen Stuhl dankend an, auch wenn er nicht ganz sauber ist, setzen wir uns zu unseren armen Brüdern und hören wir in herzlicher Teilnahme zu… “ Es gehe nicht nur darum, materielle Not zu lindern. Zur Arbeit des Vinzenz-Bruders trete „ein zweites hinzu: die geistige Betreuung der Armen.“
1934 wurde Josef zum Obmann des Jungmännerverbandes für den deutschsprachigen Teil der Erzdiözese Trient gewählt. Um der Überwachung durch die Polizei zu entgehen, fanden die Versammlungen der katholischen Jugend heimlich in Pfarr- und Privathäusern statt. Es wurde gemeinsam Sport getrieben, gespielt, gesungen und musiziert, doch vorrangiges Ziel blieb der „Auf- und Ausbau von Christi Reich in unserer Heimat“.  
Drei Jahre nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland nahm Josef zum ersten Mal Stellung zur Hitler-Begeisterung, von der sich auch viele Tiroler anstecken ließen: „Was wir heute an Führerkult miterleben, ist oft geradezu Götzendienst. Heute gilt es für die Katholische Aktion, den Massen wieder jenen Führer aufzuzeigen, der allein das Recht auf ganze, uneingeschränkte Herrschaft und Führung hat – Chris­tus, unseren Führer…“
Die 1936 begonnene Annäherung zwischen Nazideutschland und dem faschistischen Italien mündete in einem Angriffs- und Verteidigungsbündnis zwischen den beiden Mächten. Einziger Störfaktor dabei war, dass Deutschland Südtirol für sich beanspruchte. Im Oktober einigten sich Hitler und Mussolini auf einen Kompromiss: Die Südtiroler, die deutsch bleiben wollten, sollten ins Deutsche Reich abwandern, wo sie entschädigt würden, während die, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, die deutsche Kultur aufgeben und zu 100% Italiener werden sollten. Familie Mayr-Nusser entschloss sich zum Bleiben. Die dagebliebenen Südtiroler gründeten im Herbst 1939 den geheimen, nach dem berühmten Tiroler Widerstandskämpfer benannten „Andreas-Hofer-Bund“. Josef Mayr-Nusser schloss sich der Bewegung an; die geheimen Treffen fanden fortan in seinem Haus statt.
Josef arbeitete bereits seit 1928 eng mit Hildegard Straub, seiner Vorgesetzten in der Textilfirma Eccel, zusammen, die genauso wie er in der Katholischen Aktion engagiert war. Er bat sie um ihre Hand, doch sie gab ihm zunächst einen Korb. Mit der Zeit entdeckte sie jedoch die Stärken Josefs, und sie nahm seinen Antrag an. Die Hochzeit fand am 26. Mai 1942 statt. Am 1. August 1943 wurde zur großen Freude des Paares Sohn Albert geboren.
Doch die politische Situation nahm bald eine dramatische Wendung. Am 9. Juli 1943 landeten die Alliierten (Amerikaner und Briten) in Sizilien. Zwei Wochen danach wurde Mussolini von den Anführern der faschistischen Partei gestürzt; im September kapitulierte Italien auf Betreiben König Viktor Emmanuels III. und schloss sich dem Lager der Alliierten an. Als Reaktion darauf besetzte die Wehrmacht den Norden Italiens. Südtirol wurde fortan vom Deutschen Reich verwaltet, so dass auch Südtiroler zum Militärdienst verpflichtet wurden.
Obwohl Josef italienischer Staatsbürger war, wurde er Ende August 1944 einberufen. Am 7. September brach er zusammen mit 80 weiteren Rekruten Richtung Westpreußen auf. Er schrieb an seine Frau: „Mach Dir keine Sorge um mich, Liebling, wir stehen ja in Gottes Hand. Sei nicht böse, wenn ich von ganz materiellen Dingen spreche: jetzt freue ich mich, dass wir, hoffentlich, bald etwas Warmes zum Anziehen kriegen. Und in den Magen. Der totale Kriegseinsatz ist hier im Reich schon sehr spürbar.“
Josef und seine Kameraden erhielten SS-Uniformen und wurden einem strengen militärischen Drill sowie einer Dauerindoktrination unterzogen. Behutsam vertraute er seiner Frau an, dass er vorhatte, den bedingungslosen Treue-Eid auf Hitler zu verweigern und fügte hinzu: „Dass ich Dich, treueste Gefährtin, durch mein Bekenntnis im entscheidenden Moment vielleicht auch noch in zeitliches Unglück stürze, das nagt am schwersten an meinem Herzen … Dieses Bewusstsein, geliebtes Weib, dieses selbstverständliche Zustimmen in dem, was uns am heiligsten ist, bedeutet für mich einen unsagbaren Trost … Dein Gebet wird mir Kraft geben, in der Stunde der Bewährung nicht zu versagen.“
Zum Abschluss der Grundausbildung erklärte der Spieß den 80 Rekruten, dass sie am nächsten Tag, dem 5. Oktober, den Treue-Eid der SS zu leisten hätten, dessen Text er gleich vorlas: „Ich schwöre dir, Adolf Hitler, Führer und Reichskanzler, Treue und Tapferkeit. Ich gelobe dir und den von dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod. So wahr mir Gott helfe!“ Josef hob sofort die Hand und erklärte, er könne den Schwur nicht leisten.
Der Spieß holte daraufhin den Kompaniechef, der Josef nach seinen Gründen fragte. Es seien religiöse Gründe. Der Offizier fragte weiter: „Also dann sind Sie kein hundertprozentiger Nationalsozialist?“ Josef sagte ihm ruhig ins Gesicht: „Nein, das bin ich nicht.“ Der Kompaniechef forderte ihn auf, seine Weigerung schriftlich zu bekräftigen; Josef kam der Aufforderung nach – mit dem Zusatz, er verweigere den Eid „aus religiösen Motiven“.
Die Kompanie stand wie versteinert da; manch einer hatte das Gefühl, Josef habe gerade sein Todesurteil unterschrieben. Er hatte bereits einige Tage zuvor seinem Bettnachbarn, Hanskarl Neuhauser, seine Absicht anvertraut; Neuhauser hatte dazu gesagt: „Ich glaube nicht, dass das der Herrgott von uns verlangt.“ Josefs Antwort: „Wenn nie jemand den Mut aufbringt, ihnen zu sagen, dass er mit ihren nationalsozialistischen Anschauungen nicht einverstanden ist, dann wird es nicht anders.“ Er wusste sehr wohl, dass die Entscheidung ihn die Freiheit, wenn nicht sogar das Leben kosten könnte. Er wurde noch am gleichen Tag verhaftet und wegen Verrats unter Anklage gestellt.
Am 12. November schrieb Josef einen langen Brief an Hildegard, um sie zu beruhigen und zu trösten. Er sehne sich danach, sie und den kleinen Albert wiederzusehen, doch er sei sich sicher, dass ihre Liebe die harte Belastungsprobe bestehen und bestärkt aus ihr hervorgehen werde. „Dieses Bekennen-müssen wird sicher kommen, es ist unausbleiblich, denn zwei Welten stoßen aufeinander. Zu deutlich haben sich Vorgesetzte als entschiedene Verneiner und Hasser dessen gezeigt, was uns Katholiken heilig und unantastbar ist … Kameraden, mit denen ich mich auch im Religiösen verstehe, habe ich leider keine hier. Dieser Mangel wiegt schwer, noch mehr der jeglicher religiöser Betreuung. Wie viel bedeutet aber in solcher Lage das Bewusstsein, dass gute Menschen in der Heimat für mich beten.“
Am 14. November wurde Josef nach Danzig verlegt, wo er vor ein Militärgericht gestellt werden sollte. Am 5. Dezember dankte er seiner Frau für ihre Briefe, die ihm jetzt erst vom Richter ausgehändigt worden waren; er ermutigte sie zur Hoffnung und zum Vertrauen auf die Vorsehung. Das war sein letztes Lebenszeichen. Am 5. April 1945 wurde Hildegard offiziell mitgeteilt, dass „der SS-Mann Josef Mayr … an Bronchopneumonie auf dem Erlanger Bahnhof verstorben ist.“
Erst 35 Jahre später brachte der Brief Fritz Habichers an Josefs Witwe Klarheit über die Todesumstände ihres Mannes: Anfang Februar 1945 musste Habicher mit vier weiteren SS-Wachleuten einen Transport von Todeskandidaten ins KZ Dachau begleiten. Josef Mayr-Nusser gehörte zu den Häftlingen und wurde den Wachen als Verräter dargestellt, der seine Kameraden mitten im Gefecht im Stich gelassen habe. Doch Fritz ging aufgrund der Gutmütigkeit und Liebenswürdigkeit Josefs davon aus, dass jener fälschlich beschuldigt worden war. Auf dem Danziger Bahnhof wurden die Gefangenen in einen Wagon gesperrt und mit so gut wie nichts zu essen und zu trinken auf eine zehntägige Reise durch das zerbombte Deutschland geschickt.
Der Transport landete in Erlangen, da der Zug wegen zerstörter Gleise nicht weiterfahren konnte. Josef litt an einem Hungerödem sowie an heftigem Durchfall. Die Gefangenen bekamen nun etwas zu essen, durften jedoch den Wagon nicht verlassen. Dem Begleitoffizier wurde nach acht Tagen erlaubt, die Schwächsten, zu denen auch Josef gehörte, in ein Krankenhaus zu bringen. Dazu mussten sie kilometerweit durch die Stadt marschieren; am Ende war Josef so erschöpft, dass er von seinen Kameraden getragen werden musste. Nach langem Warten wurde er von einem Arzt untersucht und zunächst in den Wagon zurückgeschickt; sein Fall sei nicht sonderlich schwer. Josef nahm den Befund ohne Murren und Klagen hin. Er wurde zum Bahnhof zurückgebracht und dankte seinen Kameraden mit einem herzlichen „Vergelt’s Gott für alles!“. Er starb ein paar Stunden später in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 1945 allein und ohne priesterlichen Beistand im Eisenbahnwagon. Habicher fand bei seinem Leichnam ein Neues Testament, ein Messbuch sowie einen Rosenkranz. Zusammen mit anderen SS-Leuten beerdigte er Josef mit militärischen Ehren und im Beisein eines Erlanger Pfarrers.
1958 wurde Josef Mayr-Nussers Leichnam nach Bozen überführt und 1963 in der neuerbauten, dem hl. Josef geweihten Kirche von Lichtenstern beigesetzt. Anlässlich der Einweihung eines ihm zu Ehren errichteten Denkmals im Jahre 2005 sagte der Bozner Bischof Wilhelm Egger: „Wir leben heute in einer sog. freien Gesellschaft, und doch besteht ein ungeheurer moralischer Druck, ja Zwang, dem sich unsere Familien und auch die Jugend nur schwer entziehen können, als da sind: sexuelle Freizügigkeit, eheliche Untreue, Scheidung … Josef Mayr-Nusser kann uns da beispielgebend sein, das Gewissen höher zu stellen als den Trend der Zeit, der sich ohnedies immer wieder ändert. Die Ideale Nussers, für die er gestorben ist: Nächstenliebe, Glaube, Freiheit sollten die Ideale der Bildung sein.“
Am 18. März 2017 wurde Josef Mayr-Nusser offiziell seliggesprochen. Einen Tag später sagte Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom: „Josef Mayr-Nusser … starb als Märtyrer, da er sich aus Treue zum Evangelium weigerte, sich dem Nationalsozialismus anzuschließen. Aufgrund seines großen moralischen und spirituellen Formats ist er ein Vorbild für die Laiengläubigen.“




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