VISION 20001/2000
Zeichen der Zeit

[Schließen] [Drucken] Es sind nicht alle Religionen wahr

Gespräch mit Kardinal Joseph Ratzinger über aktuelle Fragen des Glaubens (Kardinal Joseph Ratzinger)

Herr Kardinal, Sie haben oft darauf aufmerksam gemacht, daß das wichtigste Problem der katholischen Kirche der Relativismus ist: Wenn man also sagt, daß niemand feststellen könne, welche Religion wahr sei. Wo sehen Sie die Gründe für eine solche Haltung und wie gefährlich ist sie?

Kardinal Joseph Ratzinger: Ein Grund dafür ist sicher die technisch-positivistische Weltanschauung. Technik bewährt sich im Experiment und ist damit verläßlich. Die Methode, die hier zu großen Erfolgen geführt hat, scheint nun die einzige zu sein, die überhaupt richtige Ergebnisse gewähren kann. Alles, was man nicht in ähnlicher Form beweisen kann, erscheint unsicher. Das hat zur Folge, daß nur die Dinge, die irgendwie in den materiellen oder technischen Bereich hereinreichen, als zuverlässig angesehen werden. Alles andere ist dann subjektiv, bleibt unsicher. Die vielen konkurrierenden Religionen oder auch Philosophien können so nur als entfernte Spiegelungen einer letztlich unerreichbaren Wahrheit erscheinen....

Es kommt noch die Meinung dazu, daß der Glaube an die Wahrheit intolerant macht. Wenn jemand glaubt, die Wahrheit erkannt zu haben und sie verteidigen will, so ist er - sagt man - intolerant für andere Wahrheiten. Demgemäß sei eigentlich der christliche Glaube an die Wahrheit der Offenbarung antidemokratisch. Er macht, so scheint es, Toleranz unmöglich. ... Die Gefährlichkeit des Relativismus beruht darauf, daß er so einleuchtend ist und sich dem Menschen von heute so nahelegt. Aber alle wichtigen Fragen des Menschseins - Leben, Sterben, Gott, wie auch die ethischen Fragen - verfallen so ins Beliebige. Und wenn die großen ethischen Fragen beliebig sind, wenn wir keine gemeinsame Antwort mehr finden, dann ist der Mensch in Gefahr. Insofern gefährdet der Relativismus nicht nur unseren Glauben, der eine Spielart unter vielen Weltanschauungen wird, sondern er gefährdet auch den moralischen Zusammenhalt der Menschheit.

Man kann heute oft hören, daß alle großen Religionen wahr sind, nur sei die christliche Religion der kürzeste Weg. Was halten Sie von dieser Meinung?

Ratzinger: Man kann ganz und gar nicht sagen, alle Religionen seien wahr. Vielmehr: In allen Religionen oder in den meisten Religionen gibt es - neben irrigen und fraglichen Aspekten - Elemente der Wahrheit. Insofern konvergieren in gewisser Hinsicht die Religionen nicht nur zueinander, sondern tragen eine innere Dynamik zum christlichen Glauben in sich. Um es zu wiederholen: Die Religionen sind weder ganz wahr noch ganz falsch; in ihnen sind in recht unterschiedlicher Weise Elemente der Wahrheit wie des Irrtums vorhanden. Denn die Religionen kommen zum Teil aus der natürlichen Offenbarung heraus. Der Mensch ist ja nicht ganz blind geworden für Gott; als Katholiken sehen wir die Erbsünde nicht als eine totale Erblindung und als totalen Schaden an. Immer noch spricht im Menschen Gott. So ist denn in den Religionen diese Urbotschaft Gottes da, wenn auch vielfach verdunkelt. ...

Kann man heute noch behaupten, wie es die Kirchenväter machten, daß diese negativen Elemente in verschiedenen Religionen von Dämonen kommen?

Ratzinger: Auf jeden Fall kann man sagen, daß sie von der Sünde kommen, und Sünde hat immer auch mit den dämonischen Mächten zu tun.

Man kann heute bei einigen katholischen Theologen lesen, daß wir uns mehr für die Idee der Reinkarnation interessieren sollten, weil sie eine neue Hoffnung bedeutet. Darf ein Katholik an die Reinkarnation glauben?

Ratzinger: Die Antwort lautet: nein. Natürlich stecken in der Reinkarnationslehre positive Sehnsüchte, ... aber letztlich nimmt der Reinkarnationsgedanke dem menschlichen Leben seinen Ernst. Dann kann einer sagen: Es ging mir im Leben einiges schief, ich riskiere noch ein zweites unangenehmeres Leben, aber dann beginne ich noch einmal und so weiter. Der eigentliche Ernst der Entscheidung, die Größe der menschlichen Existenz, wird weggenommen. Ich weiß selber ja gar nicht, wovon ich nun eine Fortsetzung bin. Das ist unlogisch. Und es ist mit dem persönlichen Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen und der Größe der menschlichen Seele unvereinbar. ....

Hans Urs von Balthasar behauptete ..., daß wir darauf hoffen dürfen, daß die Hölle leer sei. Er sprach sogar von der Pflicht zur Hoffnung darauf, daß niemand verdammt werde. Man kann jetzt oft hören, daß die ewige Strafe der Güte Gottes widerspreche.

Ratzinger: Dazu möchte ich zunächst sagen, daß Balthasar sich manchmal drastisch und einseitig ausgedrückt hat. Man muß sein ganzes Werk lesen, um diese Texte richtig einzuordnen. So wie ich Balthasar verstehe, wollte er uns sagen: Es gibt zwei Irrtümer: Einerseits den Irrtum des Origines, der uns eine "Apokatastasis" verspricht, das heißt: Alles wird eingerichtet, und am Schluß wird alles versöhnt. Diese Apokatastisidee ist in der Bibel ganz und gar nicht begründet. Nirgendwo gibt es dafür einen Anhalt. Eine solche Vorhersage widerspricht dem Ernst der menschlichen Freiheit. Gott überrumpelt uns nicht, er rettet uns nicht gegen unseren Willen. Andererseits ist nach Balthasar auch Augustinus einen Schritt zu weit gegangen, indem er behauptete, nur ein Teil der Menschen sei von Gott zum Heil prädestiniert und Gott habe nicht für alle das Heil vorgesehen. Auch dazu berechtigt uns die Bibel nicht, denn die sagt ganz klar: Gott will, daß alle Menschen zum Heil und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, Christus ist für alle gestorben. Balthasar versucht dann sozusagen, in der Mitte zwischen beiden Extremen einen Weg zu finden. Er sagt: Wir können und dürfen nicht behaupten, daß alle gerettet werden. Aber wir dürfen Hoffnung für alle haben, und zwar eine aktive Hoffnung, indem wir uns betend, liebend und leidend mit dem Herrn verbinden, der für alle sterben wollte und für alle gestorben ist...

Wir dürfen also sicher nicht sagen, die Hölle sei leer. Aber wir müssen mit Christus um das Heil aller ringen. Im übrigen zeigt uns die Bibel die Hölle als Realität. Es ist wichtig, daß wir sie nicht als eine leere Hypothese ansehen, sondern als eine Realität, die uns in unserem Leben angeht. ...

In "Lumen Gentium" finden wir eine klare Lehre, daß diejenigen nicht gerettet werden, die, obgleich sie den wahren Glauben erkennen konnten, ihn nicht angenommen haben. Jetzt aber sprechen viele katholische Denker, darunter auch manche Bischöfe, so, als ob diese Bedingung des Glaubens unwichtig sei. Sie ziehen es vor zu sagen, daß man nach seinem Gewissen leben müsse. Was halten Sie von dieser Meinung, Herr Kardinal?

Ratzinger: Wichtig ist, was man unter dem Gewissen versteht. Heute versteht man unter Gewissen meist das, was ich subjektiv ausdenke, meine subjektive Meinung. Man denkt, in religiösen und sittlichen Dingen gebe es nichts Objektives; sie seien die Sphäre des Subjekts, und das nennt man "Gewissen". Gewissen bedeutet dann, daß das Subjekt in sittlichen und religiösen Dingen die letzte Instanz ist. So wird gleichgültig, was ich inhaltlich glaube, denke, tue.

Die Heilige Schrift versteht unter Gewissen etwas ganz anderes: die Durchlässigkeit des Menschen für Gott, für die Wahrheit, die allen gemeinsam ist. Der Mensch hat, wenn er sucht, wenn er sich öffnet, die Chance, wenigstens ein Stück Weg zu erkennen, der zu Christus führt. Dann sieht die Sache ganz anders aus. Insofern ist die Sache mit dem Gewissen - das sehen wir in "Lumen Gentium" - ein anspruchsvoller Weg. Das bedeutet nicht, zu tun, was ich subjektiv möchte, sondern es bedeutet, Ausschau zu halten, sich auf den Weg zu machen, sich immer wieder reinigen zu lassen und dadurch das innere Gehör für Gott und für Christus zu bekommen. Von da aus kann man dann verstehen, worin die Größe, die Schönheit des Glaubens besteht.Die verschiedenen Religionen können nur Elemente liefern, die mich auf den Weg bringen, können mir aber auch Elemente geben, die mich von dem Weg abbringen. Der Glaube zeigt uns deutlich, in welche Richtung Gott mich führen will und gibt dem Gewissen seine volle Klarheit. ...

Dietrich von Hildebrand hat behauptet, daß wir es jetzt mit der größten Krise in der Geschichte der Kirche zu tun haben, weil die katholischen Theologen den Wert der Wahrheit unterhöhlt haben...

Ratzinger: Die historische Frage, ob dies heute die größte Krise ist, möchte ich offen lassen, weil es schwierig ist, solche Vergleiche zu machen. Die gnostische Krise war sicher eine ganz große Krise. Die Krise des 16. Jahrhunderts war auch sehr tiefgehend. Aber daß wir jetzt in Gefahr sind, die Wahrheit unter den Scheffel zu stellen, weil wir fürchten, wir würden intolerant und hochmütig sein, diese Gefahr ist sehr groß. Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wenn wir nicht wirklich glauben, daß Christus der Sohn des lebendigen Gottes, das Logos Gottes ist, daß das wahr ist, was Er uns sagt, dann ist das ganze Christentum nur noch Tradition. Dann findet man das Christentum schön, ästhetisch oder sonst irgendetwas, aber da verliert es seine lebendige Kraft. Denn für eine Religion, die nicht wirklich wahr ist, bin ich nicht bereit zu leiden. Und ein Christentum, für das man nicht mehr leiden kann, hat keinen letzten Wert, weil dann am Ende meine Bequemlichkeit wichtiger scheint, als der Glaube an Gott. Die Gefahr also, daß wir den Wahrheitsanspruch streichen, scheinbar aus Respekt vor dem anderen, scheinbar aus Demut, bedeutet in Wirklichkeit, daß wir es uns bequem machen, daß wir die Größe des Christentums nicht mehr annehmen, daß wir den Glauben verändern.Und dagegen steht ein wunderbares Wort von Tertullian, der geschrieben hat: Christus hat nicht gesagt: Ich bin die Gewohnheit, sondern ich bin die Wahrheit.

Das Gespräch führte Pawel Lisicki. Aus der polnischen Schrift "Fronda" Juli 99 wurde es in "Die Tagespost" v. 23.10.99 auf Deutsch abgedruckt. Wir bringen einen Auszug aus diesem Interview.