VISION 20004/2002
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“Er hat fast drei Liter Blut verloren..."

Artikel drucken Das Attentat am 13. Mai 1981 (Von Tadeusz Nowakowski)

Das Attentat auf Johannes Paul II. war ein einschneidendes Ereignis in seinem Pontifikat. Ein Journalist, der den Papst auf vielen seiner Reisen begleitet hat, erinnert sich an diese Zeit zurück:

Ein Blasorchestser aus Bayern setzt die Messingposaunen an. Aber sie spielen nicht: Zu groß ist die Erregung über all das, was sich ringsum abspielt. Hunderte von Fotoapparaten werden hochgehalten. Eine Frau im blauen Kleid hat sich zur Barriere durchgedrängelt und reicht dem Papst ein krausköpfiges, puppenähnliches kleines Mädchen, an dessen molliges Händchen ein Luftballon gebunden ist. Der Papst hebt das Kind in die Luft, küßt es, gibt es vorsichtig in die sicheren Arme der beglückten Mutter zurück.

Nicht einmal die in unmittelbarer Nähe des Attentäters Stehenden haben die Schüsse gehört - so lautstark war die Freude der wogenden Menge. Man glaubte zuerst, jemand hätte im Innern der Kolonnade eine Petarde gezündet, wie es Halbwüchsige im Fußballstadion zu tun pflegen.

Es dauerte ziemlich lange, bis sich die Menschen darüber klar sind, was geschehen ist. Nur wenige bemerken, daß der Papst plötzlich schwankt, zurückfällt, als ob er niederknien wollte, um schließlich langsam in die Arme seines Sekretärs Dziwisz zu sinken.

Eine Frau schreit in hellem Entsetzen: “Sie haben ihn getötet! Getötet!" Das weiße Fahrzeug, das bisher sehr langsam gerollt und oft stehengeblieben war, nimmt Faht auf. Schon laufen Männer in Zivil und Uniformierte vorweg und hinterher. Einige halten Revolver in Händen.

“Presto!" kommandiert ein hochgewachsener Mann mit Sonnenbrille, “zum Arco della Campane! Presto!"

... Ein gewaltiges Durcheinander, vermehrt durch das Sirenengeheul der Polizeiwagen und das laute Weinen von Frauen und Kindern. Doch es kommt nicht zur Panik, niemand wird in der Menge niedergetrampelt - dank der Geistesgegenwart des polnischen Jesuitenpaters Kazimierz Przydatek. Er läuft zum Mikrophon und beginnt, das “Vater unser" in lateinischer Sprache zu beten. Tausende von Gläubigen sinken auf die Knie. Wer kniet, läuft nicht davon. Es gibt einige, die vor dem leeren Thron (polnische Pilger haben auf ihm ein Bild der Schwarzen Madonna aufgestellt) bis in die tiefe Nacht hinein beten werden. ...

Es ist dunkel geworden. An der Stelle des unseligen Vorfalls hat man inzwischen Kerzen entzündet. “Die Kerzen der Hoffnung", ertönt die Stimme des Jesuitenpaters, “sollen die ganze Nacht hindurch brennen!"

“No al terrorismo!" - skandiert die Jugend auf der Straße. Abends erfahren wir von Professor Francesco Crucitti, dem Chef des Chirurgenteams: “Der Papst befindet sich in akuter Lebensgefahr, sein Zustand ist besorgniserregend. Er hat fast drei Liter Blut verloren. Die Unterleibsoperation wird voraussichtlich fünf Stunden dauern."

“Ich bin Atheist", sagt mir ein Freund von der Harvard-Universität, “aber ich finde, man braucht kein gläubiger Mensch zu sein, um zu sagen, die Welt wäre ärmer und kälter, wenn es diesen Papst nicht mehr geben sollte." ...

Am 20. Juni 1981 wurde Papst Johannes Paul II. zum zweiten Mal aus dem Vatikan in die Poliklinik überführt. Diesmal - so lautete die erste Anamnese - wegen einer “leichten Lungenentzündung". Dann wird im ärztlichen Bulletin als Ursache der plötzlichen Schwächung und steigenden Fieberkurve des Patienten Virusinfektion genannt.

Zu früh ist er in den Vatikan zurückgekehrt, zu früh hat er seine Arbeit wieder aufgenommen. Besucher empfangen, lange Reden gehalten. “Der Papst hat sich praktisch den Entlassungsschein selber ausgestellt", flüstern die Ärzte. Der Papst hat es erneut verabsäumt, sich zu schonen, und dabei seine Kräfte überschätzt. Wieder einmal wollte er seinen Leitspruch unter Beweis stellen. “Totus tuus".

Während ich von meinem Besuch in der Klinik zurückkehre, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß nunmehr jener erste Abschnitt eines Pontifikats zu Ende geht, der in seiner Dynamik die Phantasie von Millionen in aller Welt beflügelte. Wie wird der zweite sein?

Abschnitte aus dem Buch “Ich fürchte mich nicht - Die Reisen des Papstes", Langen Müller, München-Wien, 425 Seiten, vergriffen

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