Im Rahmen eines von “Kirche in Not" veranstalten Fernseh-Gesprächs hat der Kölner Erzbischof zum Thema Neuevangelisierung Stellung genommen und dabei von vielen persönlichen Erlebnissen mit den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. erzählt. Im folgenden einige Auszüge aus den Erzählungen des Kardinals.
Weltjugendtag mit zwei Päpsten
Noch drei Wochen vor seinem Tod ließ mich Papst Johannes Paul II. in die Gemelli-Klinik kommen. Er hat zu mir gesagt: “Wartet Ihr noch auf mich in Köln?" “Und wie, Heiliger Vater! Und Sie brauchen kein Wort zu sagen. Ihre Präsenz spricht lauter als Ihre Worte." Dann habe ich mich etwas über das Bett gebeugt, habe ihn an den schon dünn gewordenen Armen gepackt und gesagt: “Heiliger Vater, ich lasse Sie jetzt erst los, wenn Sie mir versprechen zu kommen." Da lächelte er etwas und sagte: “Ich komme - aber wie, das bestimmt ein anderer."
Und das war dann tatsächlich der erste Weltjugendtag mit zwei Päpsten: einer von unten, einer von oben. Darum war er auch so intensiv.
Als wir nun den neuen Papst gerade gewählt hatten, wollte ich sagen: “Heiliger Vater, Du kommst doch zu uns nach Köln?" Aber ich war so ergriffen, daß ich kein Wort rausgebracht habe, mir liefen die Tränen übers Gesicht. Da hat er von sich aus gesagt: “Du, ich bin in Köln mit von der Partie." Da dachte ich: “Da haben wir richtig gewählt."
Die drei großen Ereignisse des Jahres 2005: Der Märtyrertod, das heißt das zeugnishafte Sterben von Johannes Paul II., dann die imposante Papstwahl und der Weltjugendtag - haben in die Kirche einen ungeheuren Aufbruch gebracht.
Johannes Paul II. - ein wahrer Vater
Wir leben ja in einer vaterlosen Gesellschaft. Nun hat die katholische Kirche ein Oberhaupt, das “Papa", Vater, heißt. Die ganze ungebrochene Sehnsucht des Menschen nach einem Vater hat sich auf diese Person konzentriert. Man bedenke: die 27jährigen hatten keinen anderen Papst erlebt als diesen! Er war für sie die Identifikationsfigur. Außerdem war dieser Papst wie ein Wünschelrutengänger. Er hat die verborgenen Sehnsüchte der Menschen erspürt, um Antworten darauf zu geben. So sind die Weltjugendtage eine Kreation dieses Papstes. Er wollte auf die Stimme der Jugend hören. Er sagte: “Die Jugend ist ihrem Ursprung, der Schöpferhand Gottes viel näher als ich mit 80 Jahren. Sie haben einen besseren Draht zu Gott als ich als Papst. Ich bin gut beraten, wenn ich auf die Jugend höre, die der Kirche den Weg in die Zukunft zeigt."
Kardinal Stafford, er war Präsident des Laienrates und früher mit der Vorbereitung von Weltjugendtagen befaßt, zeigte mir den Brief eines jungen Franzosen. Er schrieb: “Ich bin aus Rom als anderer Mensch nach Hause gekommen. Ich habe mich als Mensch mit einem ungeheuren Wert erlebt. Zum ersten Mal habe ich erlebt, daß ein anderer um mich geweint hat. Nicht nur irgendwer - sondern der Papst." In einer großen Katechese hatte der Papst erzählt, daß er selbst ein schweres Leben gehabt hatte: die Nazi-Diktatur in der Jugend, dann die kommunistische, die Mutter war früh gestorben, dann der Bruder, die Schwester und schließlich der Vater. Als Student sei er mutterseelenallein dagestanden. Und dann sagte der Papst: “In der Welt, in die ich Euch als junge Christen zurückschicken muß, ist die Herausforderung noch größer. Ihr habt es viel schwerer als ich damals." Und aus Sympathie liefen ihm die Tränen aus den Augen. “Um mich weint dieser großartige Mann," hat sich der jungen Franzose gedacht. “Was muß ich in den Augen Gottes wert sein."
Eigentlich schon seliggesprochen
Was mich bei Papst Johannes Paul II. immer bewegt hat: Man ging von ihm immer besser weg, als man hingekommen war. Hat man ihn im Gespräch gefragt: “Heiliger Vater, warum sagen Sie das so?", dann sagte er, er habe das mit Gott besprochen, so wie wenn ich mit meinem Generalvikar über die Finanzen rede. Der Papst war in permanentem Dialog mit Gott. Er war im Himmel wie auf Erden zu Hause. “Wie im Himmel, so auf Erden." Darum ist Papst Johannes Paul II. wirklich zum Segen für die Welt geworden. Schon im Vor-Konklave lagen plötzlich Listen auf: “Subito beato". Alle Kardinäle haben unterschrieben. Er soll sofort seliggesprochen werden. Es war die spontane Seligsprechung durch das Volk Gottes. Es hätte nicht gegen die Heiligen-Canones verstoßen, wenn der neue Papst sofort seliggesprochen hätte. Aber dieser ist ein kluger Mann, der die zuständigen Behörden nicht übergehen will. So müssen wir also noch ein wenig warten. Ich denke aber, daß wir alle noch erleben werden, wie Johannes Paul II. seliggesprochen wird.
“Ich bitte Dich: Nimm die Wahl an!"
Vor dem Konklave kamen wir Kardinäle täglich zu Beratungen zusammen. In dieser Zeit bin ich zu Kardinal Ratzinger gegangen (ich bin einmal monatlich in Rom und da haben wir immer auch miteinander mittags oder abends gegessen) und habe ihm gesagt: “Joseph, ich komme als Prophet." Er darauf: “Raus!" “Ja, so gehen die Gottlosen mit den Propheten um. Ich bleibe." “Ja, was willst Du?" Sag ich: “Du mußt Papst werden." “Du bist wohl verrückt," sagt er. Worauf ich: “Nein, ich bin katholisch. Ich bitte Dich wirklich: Nimm die Wahl an, wenn es auf Dich zukommt." Sagt er: “Bete für mich, daß dieser Kelch an mir vorbeigeht." “Ja", sag ich, “und ich bet' auch wie der Herr am Ölberg: ,Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe'." Es tat mir in der Seele weh, in welcher Angst und Not ich ihn zurückgelassen habe. Aber ich dachte, es sei meine Pflicht - auch im Namen der Kirche - ihm das zu sagen.
Und weil ich mir nicht ganz sicher war, bin ich fünf Stunden vor dem Konklave nochmals bei ihm gewesen. “Ja, was willst Du denn schon wieder?" Sag' ich: “Joseph, ich habe in Deiner Biographie gelesen, daß Deine Mutter eine Alleskönnerin war." “Ja, was hat das denn mit mir zu tun?" “Ja", sag' ich: “Wenn die Mutter eine Alleskönnerin ist, dann wird doch der Sohn wenigstens einiges können." “Ja, was denn?" “Na, Papst werden!"
In einem Geschäft hatte ich eine kleine russische Lackdose gekauft. Auf ihr war ein Muttergottes-Typ aus der Ostkirche, genannt die dreihändige, aufgemalt, also mit drei Händen. Ich wußte gar nicht, wem ich sie schenken würde. Jetzt aber wußte ich es und habe gesagt: “Joseph, Deine Mutter ist eine Alleskönnerin. Jetzt gebe ich Dir eine zweite Mutter dazu. Dann hast Du eine Alles-Alles-Könnerin mit drei Händen. Steck' sie Dir in die Soutane. Und wenn es Dich packt und Du merkst, es kommt auf Dich zu und Du kriegst Angst, dann greif' in die Tasche und pack' an die Mutter mit den drei Händen und die mit den zwei Händen. Und dann sag' frisch: ,Ich mach's'."
Plötzlich total verändert
Noch nie in meinem Leben habe ich es so erfahren, wie sich von hier auf jetzt das Leben eines Menschen total verändert. Am Vorabend der Inauguration des Papstes hat der deutsche Bundespräsident mir gesagt: “Wie kommt denn das, daß 120 erwachsene Männer aus den verschiedensten Kulturen, in weniger als zwei Tagen einen Papst wählen können?" Das kann man eben nicht mit dem parlamentarischen Leben vergleichen. Wir Kardinäle treten bei der Papstwahl einzeln mit unseren Stimmzetteln vor das letzte Gericht von Michelangelo, heben die Hand hoch und sagen: “Ich bekenne vor Christus, meinem kommenden Richter, daß ich den gewählt habe, den ich für den geeignetsten halte." Da vergeht einem alle politische Trickserei.
Wenn jemand die Mehrheit hat, ist er noch nicht Papst, sondern erst in dem Augenblick, in dem er sagt, er nehme die Wahl an. Dann tritt sofort der jüngste Kardinaldiakon vor ihn und liest in Matthäus 16,18: “Du bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen." Der Diakon fügt nur ein einziges Wort ein: “Und ich sage Dir, Du bist jetzt Petrus, der Fels." Dann wird der arme Petrus abgeführt, umgekleidet und dann treten wir ein. Von hier auf jetzt, was für eine Verwandlung! Da habe ich mir geschworen: Alles Widrige, Negative, was mir von jetzt an passieren wird, darüber werde ich nicht mehr jammern. Ich werde es tun als geistliche Unterstützung für diesen neuen Petrus, der Benedikt XVI. heißt.
Benedikt: 25 Jahre “Papst-Noviziat"
Papst Benedikt XVI. war immer ein großer Menschenfreund, gütig, demütig, wie er das jetzt ist. Nur hat er seinen Dienst bescheiden hinter dem breiten Rücken des großartigen Papstes Johannes Paul II. getan. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dem Volke Gottes den Glauben zu bewahren. In diesen 25 Jahren haben sich in seiner großen Seele die Wasser des Heiles in einer Weise angesammelt, die jetzt zum Strömen kommen. Benedikt XVI. hat 25 Jahre Papst-Noviziat gehabt, in dem er seinem Vorgänger gedient hat. Ich habe immer schon gesagt, Kardinal Ratzinger sei der Mozart in der Theologie: glasklar, aber von einer Schönheit, daß man gar nicht satt werden kann, ihn zu hören oder zu lesen.
Als er gewählt war, haben wir im Kölner Dom einen Dankgottesdienst gefeiert mit der Krönungsmesse von Mozart. 1.000 Sänger haben mitgewirkt. In der Predigt habe ich gesagt: Nach der Wahl Johannes Paul II. habe Kardinal Wyszinksy beim Abschiedsgottesdienst gesagt: “Heiliger Vater, wenn wir jetzt in die Heimat zurückkehren ohne Dich, dann knien wir nieder und beten für Dich Löcher in die Steine." Und ich habe dann den 5.000 Leuten im Dom gesagt: “Wird der Papst sich auf unser Gebet verlassen können?" Dann standen alle wie ein Mann auf und haben minutenlang applaudiert.
Wir haben das alles aufgenommen und die CD dem Papst geschenkt mit den Worten: “Heiliger Vater, wenn Du meinst, Du müßtest in den Tiber springen, hör' Dir das vom Kölner Dom an - und Du bleibst weiter Papst." Der Papst ist ja auch nur ein Mensch. Es ist ihm zwar ins Stammbuch geschrieben: “Du aber, stärke Deine Brüder." Aber wer stärkt den Papst? Ihn stärkt, daß 50.000 Menschen sich am Mittwoch zur Generalaudienz als Volk Gottes versammeln, ihn stärkt das Echo aus der Weltkirche. Sorgen wir dafür, daß wir Freude am Glauben haben, Freude daran, katholische Christen zu sein.
“Dann kannst Du Bücher schreiben"
Kardinal Ratzinger wollte schon mit 70 Jahren in den Ruhestand gehen. Schon damals hatte vor ihm kein Präfekt so lange die wichtige Kongregation für die Glaubensfragen geleitet. Er wollte seine wichtigen Bücher schreiben. Johannes Paul II. sagte einmal zu mir: “Rede Du doch mal mit dem Kardinal Ratzinger. Er soll mich doch nicht allein lassen. Mein Pontifikat bekäme ein anderes, ein minderes theologisches Niveau, als es mir mit Kardinal Ratzinger geschenkt worden ist." Ich habe ihm daraufhin gesagt: “Joseph, Du kannst den Papst jetzt doch nicht alleinlassen. Wenn er einmal in den Himmel geht, dann kannst Du Deine Bücher schreiben."
Und am Tag nach seiner Wahl hat er (ich war übrigens der erste, dem er eine Privataudienz gegeben hat. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihm gesagt: “Heiliger Vater, es ist gut, daß Du das mit mir einübst. Wenn Du was falsch machst, ich verrate Dich nicht.") mir gesagt: “Siehst Du, Du hast gesagt, ich könnte dann meine Bücher schreiben. Und jetzt sitze ich da." Darauf ich ihm antworte: “Die vielen Bücher, die Du geschrieben hast, werden jetzt erst so richtig gelesen werden."
Gespräch mit Kardinal Joachim Meisner wurde aufgezeichnet bei “Kirche in Not" und gesendet von K-TV (05572 / 565 120) unter dem Titel “Weltkirche im Aufbruch", 47 im Programmheft August.