John Henry Newman gilt als einer der größten katholischen Theologen des 19. Jahrhunderts, dessen Einsichten nicht nur für das II. Vatikanische Konzil bedeutsam waren, sondern bis heute aktuell sind.
Er kam aus der anglikanischen Kirche und trat sein Leben lang unermüdlich für die Wahrheit ein, erfüllt vom Vertrauen auf den göttlichen Heilsplan und die stete personale Gegenwart Gottes.
Als er starb, schrieb der anglikanische Dekan der St. Pauls-Kathedrale in London: “Wenn ihn auch viele in der römischen Kirche betrauern werden, so wird doch ihr Schmerz geringer sein als der unsere, denn sie haben nicht die gleiche übergroße Dankesschuld ihm gegenüber wie wir." Kann man Hochachtung und - vor allem - geistige Verbundenheit besser ausdrücken?
Newman wurde am 21. Februar 1801 in London als Sohn wohlhabender Eltern geboren. Die Mutter machte ihn schon früh mit der Bibel vertraut, jedoch sehr gefühlsbetont. Im Alter von sieben Jahren wurde John nach Ealing in eine ausgezeichnete anglikanische Privatschule geschickt, wo er sich als eifriger, hochbegabter Schüler erwies. Hatte er als Kind schon “keine eigentlichen religiösen Überzeugungen" gehabt, schrieb er noch als Jugendlicher in sein Tagebuch: “Ich erinnere mich ... des Gedankens, ich möchte wohl tugendhaft sein, aber nicht religiös ... Auch hatte ich nicht erkannt, was es für einen Sinn hätte, Gott zu lieben."
1816, während einer Erkrankung, erlebte er seine “erste Bekehrung": “Sie machte mich eigentlich zum Christen - mit Erfahrungen vorher und nachher, ehrfurchtgebietend und nur Gott allein bekannt." “Von meinem 15. Lebensjahr an war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion ... Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk."
1817 begann er am “Trinitiy College" in Oxford zu studieren, schon nach drei Jahren schloß er sein Studium ab und wurde kurz darauf Professor am “Oriel College". 1824 wurde er Diakon, 1828 Pfarrer an der Universitätskirche St. Mary's in Oxford. Bald war er durch seine Predigten berühmt. Dabei ging es ihm stets darum aufzubauen: “Nichts war mir verhaßter, als Zweifel auszustreuen und die Gewissen unnötigerweise zu verwirren."
1828 begann Newman systematisch die Kirchenväter zu studieren. Viel später schrieb er: “Die Väter haben mich katholisch gemacht." Der zunehmende Liberalismus in der Kirche bewog ihn, zusammen mit anderen Geistlichen 1833 die “Oxford-Bewegung" zu gründen, die eine Erneuerung im Sinne der Urkirche anstrebte. Von der Bedeutung des Lehramtes der Kirche zutiefst überzeugt, entwickelte Newman die Theorie der “Via Media": Da die Protestanten Wahrheiten des ursprünglichen Glaubens verworfen, die Katholiken durch Zusätze und Irrtümer den Glauben der Alten Kirche verfälscht hätten, bildeten die Anglikaner allein die “Via Media". Sie entsprächen der wahren Kirche Christi. Aber Newmans Ideen wurden vehement verurteilt und zurückgewiesen.
Eine Zeit intensiven Studiums und Betens folgte nun. Er war überzeugt, Gott würde ihm Klarheit schenken, wenn er nur geduldig und treu im Gebet bleibe. 1843 widerrief er, daß die römisch-katholische Kirche mit dem Antichrist verbunden sei.
Damit mußte er auch sein Amt als Universitätspfarrer und Professor zurücklegen. Nach langem Ringen bat er am 8. Oktober 1845 um Aufnahme in die katholische Kirche - zu einer Zeit, da die Katholiken in England noch immer eine verachtete und diskriminierte Minderheit waren. Am 30. Mai 1847 wurde er in Rom zum katholischen Priester geweiht. 1848 gründete er das erste Oratorium des hl. Philipp Neri in London, 1849 ein weiteres in Birmingham, wo er bis zu seinem Lebensende zumeist blieb. Er hatte “nach stürmischer Fahrt den sicheren Hafen erreicht".
Lange nach seiner Konversion schrieb er: “Von der Zeit an, daß ich katholisch wurde, habe ich ... in vollkommenem Frieden und ungestörter Ruhe gelebt, ohne je von einem einzigen Zweifel heimgesucht zu werden." Äußerlich aber erfuhr er viel Mißtrauen und erlitt schwere Fehlschläge, u. a. als er mit der Gründung einer katholischen Universität in Dublin beauftragt wurde. Seine Ideen erschienen den Verantwortlichen zu revolutionär.
In den folgenden Jahren verfaßte er wichtige Studien, etwa über das Zeugnis der Laien in Fragen der Glaubenslehre. Darin zeigte er auf, daß die unverfälschte Lehre bisweilen auch durch Laien bewahrt wird. Zum Beispiel im 4. Jahrhundert, als es die gläubigen Laien waren, die das Bekenntnis zur Gottheit Christi in der Auseinandersetzung mit der Irrlehre der Arianer bewahrten, während unzählige Bischöfe und Priester abfielen.
Auch damit erwarb sich Newman viel Mißtrauen. Als er 1864 schweren Beschuldigungen von anglikanischer Seite ausgesetzt war, antwortete er mit einer seiner berühmtesten Schriften, die später als “Apologia pro vita sua" bekannt wurde. In ihr legte er seine innere Entwicklung bis zur Konversion dar. Sie brachte die entscheidende Wende: Ab da wurde seine Wahrhaftigkeit sowohl von Anglikanern als auch von Katholiken anerkannt.
Sein theologisches Hauptwerk veröffentlichte er 1870: Entwurf einer Zustimmungslehre. Darin zeigte Newman, daß Glaubensgewißheit aus einer großen Zahl von übereinstimmenden Einzelargumenten entsteht, und verglich dies mit dem unmittelbar einleuchtenden Bild vom “Kabel, das aus einer Vielzahl einzelner Drähte besteht, die jeder für sich zwar schwach sind, zusammen jedoch einem Eisenstab gleichkommen. Der Eisenstab steht hier für den mathematischen oder strengen Beweis, das Kabel dagegen für den moralischen Beweis, der auf dem Zusammenkommen von Wahrscheinlichkeiten beruht, die getrennt keine Gewißheit geben können, welche aber, nimmt man sie zusammen, unwiderlegbar sind."
Nach Newman gibt es im Menschen ein eigenes Organ, das er “Folgerungssinn" nennt. Es hilft, religiöse Wahrheiten als solche zu erkennen. Oft unscheinbare Zeichen werden so zum persönlichen “Beweis" für Gott, für die Kirche, was jedoch nichts mit “religiösen Gefühlen" oder willkürlichen Annahmen zu tun hat. Glaube und Vernunft sind nicht nur kein Widerspruch - sie bedingen einander.
1877 wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft des “Trinity College" in Oxford verliehen - eine Freude, die Newman zutiefst beglückte. 1879 ernannte ihn Papst Leo XIII. zum Kardinal. Beide Ehrungen, von anglikanischer und katholischer Seite, zeigen die Wertschätzung, die Newman - verdient! - damit zuteil wurde. Der Spruch seines Kardinalswappens faßte die Grundlage seiner Gesinnung wunderschön zusammen: “Cor ad cor loquitur" (Das Herz spricht zum Herzen). Am 11. August 1890 starb John Henry Kardinal Newman im Oratorium in Birmingham.
Sein Leben war völlige Hinwendung, ja Hingabe an das Christentum als göttliche Offenbarungsreligion, deren Botschaft - wenn sie verändert wird - “ein Zerrbild ihres wahren Wesens" wird. “Von Anfang an habe ich gegen ein großes Zeitübel gekämpft: Seit 30, 40, 50 Jahren bemühe ich mich nach meinen besten Kräften, den Geist des Liberalismus im Religiösen abzuwehren ... da er ein Irrtum ist, der leider die ganze Welt in seine Fallstricke zieht."
Damals schon sah er in der heute so “normalen" Relativierung der im Glaubensbekenntnis ausgedrückten Wahrheiten “nichts anderes als eine überhebliche Distanzierung vom glaubensfordernden Anspruch der Offenbarung", der sich “aus dem Leben, Leiden und der Auferstehung Christi, der menschgewordenen Gegenwart Gottes in der Vollendung der Heilsgeschichte" ergibt.
Newman stellte nie in Abrede, daß Glaube - “ein Gnadengeschenk Gottes" - mit Schwierigkeiten verbunden sein kann. Sein Leben selbst ist Zeugnis dafür. Aber: “Zehntausend Schwierigkeiten machen, soviel ich von der Sache verstehe, nicht einen Zweifel; Schwierigkeiten und Zweifel sind inkommensurable (miteinander nicht vergleichbare) Größen" (Apologia).
Christsein ist das “Gegenüber von Seele und Gott", zugleich ein Hineingenommensein der menschlichen Natur in das Leben Gottes. Gott aber, dessen Selbstoffenbarung in Christus von “jedem Menschen im Laufe seines Lebens eine Entscheidung" verlangt - sollte Er uns in unseren Schwierigkeiten und Nöten, in unserem Ringen um Wahrheit allein lassen? Beten wir vertrauensvoll mit John Henry Newman: “Gib mir nur wahre Treue zu dir, vermehre sie täglich! Sie ist das einigende Band zwischen dir und mir, und für mein Herz und Gewissen das Pfand, daß du, höchster Gott, mich, das ärmste deiner Kinder, nie verlassen wirst."
Der Seligsprechungsprozeß für Kardinal Newman ist im Gang.
aktueller Nachtrag: Kardinal Newman wurde am 19. September 2010 von Papst Benedikt XVI. selig gesprochen.