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Mit der Sexualität umgehen lernen

Artikel drucken Wie man lernt, sich behaglich in seiner geschlechtlichen Bedingtheit einzurichten (Erzbischof Paul Josef Cordes)

Gibt es von Natur aus Unterschiede der Geschlechter?

P. Denis Sonet: Selbstverständlich. Da Mann und Frau nicht im selben Körper zu Hause sind, gibt es Unterschiede in der Struktur", die von der jeweils vorherrschenden Kultur und den Bedingungen der Erziehung unterschiedlich gefärbt, verstärkt oder abgeschwächt werden... So kann ein Kind beispielsweise sein eigenes Geschlecht ablehnen, weil seine Eltern andere Erwartungen hatten. Manchmal räumen hormonelle Gegebenheiten gesellschaftlichen und Erziehungszwängen den Vorrang ein. Das verhindert nicht, daß der Mensch grundsätzlich frei ist und über gewisse Fähigkeiten verfügt, seine Persönlichkeit so zu entwickeln, wie er das will.

Was verstehen Sie unter Struktur?

Sonet: Zum Beispiel das Gehirn: Es dürfte die rechte Gehirnhälfte bei den Männern stärker entwickelt sein, das Zentrum der Analyse, die Fähigkeit, sich im Raum zu orientieren; bei der Frau dürfte es die linke Hälfte sein, jene der Sprache und der Synthese. Oder die Hormone, die bei Mann und Frau unterschiedlich wirken. Die männlichen Hormone - sie überwiegen beim Mann - begünstigen beispielsweise die Aggressivität. Die weiblichen Hormone eine Tendenz zur Passivität, zur Annahme des anderen. Physische Kraft ist meist das Erbe des Mannes. Und das fördert in ihm die Eigenschaft, weniger furchtsam einer möglichen Aggression gegenüber zu sein.

Zur Struktur gehört auch die Sexualität, die weit davon entfernt ist, auf dieselbe Weise erlebt zu werden! Die männlichen Organe sind äußerlich, die der Frau im Inneren gelegen. So hat der Mann manchmal die Tendenz, Sexualität als etwas anzusehen, was neben seinem Leben existiert. Die Frau hingegen erlebt sie zutiefst innerlich: Sie verspürt stärker deren Ernst... und deren Folgen. Nur die Frau ist berufen, Mutter zu sein, körperlich und geistig. Diese Berufung zur Mütterlichkeit prägt ihr Bewußtsein, möglicherweise abhängig zu sein, was ihr wiederkehrendes Bedürfnis erklärt, an ihrer Seite Kraft und Zärtlichkeit zu erfahren.

Wird die Sexualität für Sie nicht zum Schlüsselbegriff, der alles erklärt?

Sonet: Alles wäre zu viel gesagt! Aber sie spielt eine enorme Rolle! Und wenn auch nicht alles unter diesem Blickwinkel zu betrachten ist, so sollte man sie auch nicht unterschätzen. Mit seiner Leibfeindlichkeit hat uns der Jansenismus traumatisiert, und die Menschwerdung ist uns unheimlich! Der ganze Körper ist aber davon geprägt, stärker dem einen als dem anderen Geschlecht zuzugehören. Einige Unterschiede sind ja augenscheinlich: die Behaarung, die Stimme, die Brüste, das Blut (500.000 rote Blutkörperchen weniger bei der Frau), die Gestalt... Andere sind weniger sichtbar, tatsächlich ist aber der Unterschied in jeder Körperzelle zu finden. Nicht nur der Körper ist allerdings sexuell geprägt, sondern auch die Psyche. Das Geschlecht prägt auch das Verhalten, die ganze Art, wie man als Mensch lebt, auch wenn es nicht leicht ist, deutlich auseinanderzuhalten, was auf Geschlechtsunterschiede zurückzuführen ist und was auf andere Einflüsse wie das soziale, kulturelle oder Familienmilieu.

Damit sich eine Frau wirklich wohl in ihrer Haut fühlt, muß sie gerne Frau sein. Und Gleiches gilt für den Mann. Allerdings ist es gar nicht so leicht, sich als geschlechtsbestimmt anzunehmen und gelassen dem anderen Geschlecht gegenüberzutreten, Ängste ebenso zu überwinden wie die Verwirrung vor dem Geheimnis der Sexualität. Um als Mensch ausgeglichen leben zu können, muß man sich der wichtigen Herausforderung stellen, sich behaglich in seiner geschlechtlichen Bedingtheit einzurichten. Und ich füge hinzu: Gleiches gilt für geglückte soziale Beziehungen.

Was soll denn das soziale Leben in diesem Zusammenhang?

Sonet: Für die Gesellschaft ist es von größter Wichtigkeit, aus Männern, die wirklich Männer sind, und aus Frauen, die wirklich Frauen sind, zu bestehen. Stellen Sie sich ein Büro, in dem ein prüdes Mädchen arbeitet, das so wenig mit ihrer Sexualität zurechtkommt, daß sie den Männern ausweicht und sie daher irritiert - weil sie ihr Geschlecht verleugnet. Oder das Gegenteil: eine junge Frau, unfähig, einem Mann zu begegnen, ohne in ihm einen möglichen Partner zu sehen. Danke schön! Ideal ist Fräulein Fühldichwohl. Sie hat ein ihrem Geschlecht entsprechendes Verhalten - ist weiblich, ausgeglichen -, ohne deswegen ihre Sexualität hervorzukehren, wenn sie Männern begegnet. Unter diesen Voraussetzungen ist gesellschaftliches Leben möglich.

Wenn nun die Sexualität die ganze Person betrifft, beeinflußt sie dann unsere Art zu lieben?

Sonet: Selbstverständlich. Nichts ist in der Psychologie hundertprozentig, aber man kann beobachtbare" Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Art zu lieben feststellen. Die leibliche Dimension spielt beispielsweise im Liebeselan des Burschen eine weitaus größere Rolle, als dies beim Mädchen der Fall ist. Jeder kennt doch das Interesse für leichte" Magazine: Sehen und Berühren, beides zählt viel für den Mann. Ein hübscher, gut ins Licht gesetzter Körper bringt ihn schnell in Schwung. Er läßt sich leicht durch die äußere Erscheinung eines Mädchens erobern, durch die Fassade". Und es besteht die Gefahr, daß er nur allzu leicht vergißt, eine Bestandsaufnahme der weitaus wichtigeren Qualitäten von Herz und Intelligenz zu machen. Im Gegensatz dazu ist die Frau weitaus mehr gefühlsbetont. Ganz offensichtlich locken sie Magazine und Pornofilme kaum. Bedingt durch den Einfluß der Medien ist das allerdings durchaus nuanciert zu sehen.

Der Frau fehlt es aber keineswegs an Sinnlichkeit!

Sonet: Nein, ihre sehr lebhafte Zärtlichkeit ist wie eine Art Sinnlichkeit. Ihr Glück ist es, sich geliebt zu wissen, auserwählt, umsorgt, umgeben, verzärtelt. Ihr Frauen, ihr denkt mit dem Herzen", so sang richtigerweise Enrico Macias. Dadurch lassen sich viele Frauen - sie sind von Natur aus gefühlsbetonter - durch die schummrige Atmosphäre eines Nachtklubs, umgarnt von wohlgesetzten Worten und gut berechneten Aufmerksamkeiten von reifen Männern einfangen...

Was wäre der kostbarste Rat, den Sie einem verliebten Jugendlichen geben würden?

Sonet: Wenn es ein Mädchen ist: Beobachte das Schlagen deines Herzens mit einem wachen Blick. Wisse eine erwachende Liebe zu erkennen, ohne zu sagen, es handle sich um reine Freundschaft. Die Zeit schafft Bindungen, und man kann sich beispielsweise an einen verheirateten Mann binden, ohne sich dessen so recht bewußt zu werden. Lehne aber andererseits nicht zu rasch eine ernstgemeinte Aufforderung zu regelmäßigen Begegnungen ab, selbst wenn da zunächst keine Liebe mitspielt: Sie kann sich einstellen. Die Liebe ist voller Überraschungen. Dennoch, Vorsicht. Bei uns im Westen ist es besser, die Liebe stellt sich vor der Heirat ein. Und einem Burschen? Laß dem Mädchen Zeit, dich zu lieben. Bedränge sie nicht fortwährend. Burschen und Mädchen würde ich sagen: Laß dem anderen das ihm zustehende Recht, es sich gut zu überlegen. Das ist übrigens das beste Mittel, ihn an sich zu binden. Die Liebe drängt sich nicht auf: Das ist manchmal herzzerreißend, oft schmerzhaft, aber es ist nun einmal so. Kaum drängt man sie auf, verblaßt und verschwindet sie. Wo Liebe entstehen soll, muß Freiheit herrschen.

P. Denis Sonet ist Familienseelsorger, das Interview ein Auszug aus Famille Chrétienne" v. 11. und v. 18.8.94

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