VISION 20005/1990
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Wir dürfen uns niemals mit dem Unrecht abfinden

Artikel drucken Die Frage der Abtreibung bleibt eine blutende Wunde (Christof Gaspari)

Die Frage der Abtreibung bewegt wieder einmal die Gemüter: In Österreich ging es um die Zulassung der Abtreibungspille, in Deutschland um die Abtreibungsgesetzgebung für das gesamte Bundesgebiet. Das Thema läßt uns nicht zur Ruhe kommen.
Verständlicherweise geht es doch um Leben und Tod. Aber wie sollen wir angemessen über Abtreibung schreiben? Wir sind zwar alle betroffen -
aber in so unterschiedlicher Weise. Läßt sich Bedeutsames sowohl für engagierte Abtreibungsgegner, für Gleichgültige und solche, die selbst in den Strudel einer Abtreibung geraten sind, aussagen? Wir wollen es jedenfalls versuchen.

In einem Gespräch hörte ich kürzlich den Vorwurf, die Gegner der Abtreibung neigten dazu, das Thema zu emotionalisieren. Man müsse vernünftig über die Dinge sprechen, nur so komme man aus der Sackgasse heraus. Das hat etwas für sich - vor allem schon deswegen, weil alle vernünftigen Argumente ohnedies gegen die Abtreibung sprechen. Also haben wir einige dieser Argumente aufgegriffen (siehe Seite 6 ff, "Argumente für Diskussionen"). Es ist zweifellos gut, eine Debatte mit Vernunftargumenten zu beginnen.

Wer so vorgeht, wird aber merken, daß die meisten Gespräche dennoch rasch emotional werden. Kein Wunder, geht es doch nicht um Nebensächliches: ob
man zum Frühstück Müsli statt Buttersemmeln essen oder statt mit dem Auto mit der Straßenbahn fahren sollte. Es wird über das Leben von Menschen, von ungeborenen Kindern entschieden - und nicht irgendein interessantes Thema besprochen. Kann man denn bei der Frage der Abtreibung leidenschaftslos bleiben? Worum geht es denn eigentlich? Um eine gezielt auf Tötung ausgerichtete Handlung, die den Tod eines Menschen zur Folge hat. Sie wird im Strafgesetz Mord genannt. Mord zuzulassen oder nicht, ist aber eine fundamentale Entscheidung. "Du sollst nicht morden" (Ex 20,13 Einheitsübersetzung) ist eine klare, unumstößliche Anweisung Gottes seit Jahrtausenden.

Das Wort ist gefallen: Mord. Wie kann ich dieses Wort in einer Zeit gebrauchen, da Millionen Menschen, Väter (vielleicht oft sogar besonders leichtfertig) und
Mütter, Ärzte und Schwestern, Freunde und Verwandte am Zustandekommen von Abtreibungen mitbeteiligt waren und sind? Darf man überhaupt noch
von dieser Schuld sprechen, da so viele Menschen davon betroffen sind? In Gesprächen hört man dann den Vorwurf, man sei anmaßend und selbstgerecht.
Das muß ich ernstnehmen und immer wieder meine Motive prüfen: Geht es dir wirklich um die Rettung der Kinder und um das Heil der betroffenen Menschen? Oder verkündest du nur selbstgerecht eine zwar wahre, aber kalte Ideologie? Du magst zwar im Recht sein, aber bist du auch in der Liebe? Diese Frage kann sich kein Kämpfer für die Ungeborenen oft genug stellen.
Heißt das aber, daß man die Dinge nicht mehr beim Namen nennen darf? Ich denke, Klarheit ist heute notwendiger denn je. Denn wir leben in einer Zeit, in der wir in der unüberblickbaren Fülle von Behauptungen die Sicht auf die Wahrheit verlieren. Wenn jemand sich zu einer Abtreibung entscheidet, zu ihr rät, an ihr mitwirkt, jemanden anderen dazu drängt, muß er wissen, was er tut. Man muß es ihm klar sagen.

Wir sind es unserer Welt also schuldig, die Wahrheit über das Geschehen zu sagen. Aber wie sagt man die Wahrheit in angemessener Form? Jesus spricht im Johannes-Evangelium den Satz: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). Wer es wirklich emst mit der Wahrheit nehmen will, kann dies also nicht ohne Bezug zu Jesus Christus tun. Er muß von ihm geleitet sein.

Und damit sind wir beim wichtigsten Punkt ange­langt, der jeder Verkündi­gung der Wahrheit vorausgehen muß: dem Gebet für die Adressa­ten, dem Gebet um das rechte Wort. Haben wir Christen nicht genau das zu sehr vernachläs­sigt? Sind unsere Bemühungen in Sachen Abtreibung nicht zu­letzt deswegen so fruchtlos geblieben, weil sie zu wenig vom Gebet, vom gemeinsamen Gebet getragen waren? Und darum wollen wir auch in dieser Num­mer von VISION 2000 zum Ge­bet für die Erneuerung unseres Volkes (also auch für unsere Er­neuerung) aufrufen (siehe S. 9).
Auf diesem Hintergrund darf, ja muß die Wahrheit verkündet werden. Wir alle haben es bitter nötig, daß uns immer wieder der Blick auf die Wahrheit freigelegt wird. Und das ist gerade bei der Frage der Abtreibung besonders wichtig. Dieses furchtbare Ge­schehen wird extrem banalisiert - eben weil es millionenfach statt­findet. Da wird von Errungen­schaft der Frauenbefreiung, von Durchsetzung der Fristenrege­lung, von Schwangerschafts­unterbrechung, usw ... geredet. ,,Ambulatorium für Schwange­renhilfe" heißt eine der größten Wiener Abtreibungskliniken.
Nein, da wird niemandem ge­holfen - auch der verzweifelten Mutter nicht. Und am wenigsten helfen Beschwichtigung und Baga­tellisierung. Denn wer tötet, lädt Schuld auf sich. Das ist nicht eine Frage der Betrachtungsweise, sondern eine objektive Gegeben­heit, der sich keiner entziehen kann. Als erstes sind davon die Mütter der abgetriebenen Kinder betroffen. Sie erleben ja, was tatsächlich geschehen ist. Die zahllosen Traumata sind ein Be­leg dafür (siehe Seite 8).

Hier eröffnet sich eine der größten Herausforderungen für die Kirche unserer Zeit: Es geht darum, Brücken zu schlagen zwischen den schuldig Gewordenen und Gott, der ver­zeihen will. Da hilft es nicht viel, von kirchenrechtlichen Sanktio­nen und besonderen Erschwer­nissen der Schuldvergebung zu sprechen. Das schreckt nur ab. Jesus Christus ist doch gekom­men, um die Sünder zu retten, den verlorenen Sohn in die Arme zu schließen, das verlorene Schaf heimzuholen ...

Und daher ist es wichtig, daß wir nicht aufhören, von der Schuld und dem Unrecht zu sprechen. Aber nur, wenn wir im selben Atemzug klarmachen, daß Gott nichts sehnsüchtiger erwartet, als dem zu verzeihen, der seine Schuld erkennt und neu anfangen will.
Natürlich hört niemand es all­zu gern, wenn von seiner Schuld gesprochen wird. Wollen nicht die meisten von uns gut vor den anderen dastehen, möglichst makellos, erfolgreich und selbst­sicher? Eine Gesellschaft, die es zuläßt, daß jährlich zigtausende Kinder im Mutterleib getötet werden, hat aber keinen Anlaß, selbstsicher zu sein. Keiner von uns kann sich selbstzufrieden zurücklehnen und seine Hände in Unschuld waschen. Wir alle tra­gen an diesen Greueltaten mit - mehr oder weniger unmittelbar, aktiv oder durch Duldung, Re­signation, Stillschweigen ...

Eines muß uns nämlich klar sein: Diese unbewältigte Schuld lastet schwer auf unseren Völkern. Durch die vie­len Verdrehungen der Wahrheit, die notwendig sind, um mit die­sem Unrecht weiter zu existieren, verlieren wir immer mehr die Orientierung, schreiten wir von einer Unrechtsregelung zur nächsten fort: von der Abtrei­bung zur Manipulation von Embryos in der Retorte ("Wir können doch den Embryo in der Retorte nicht mehr schützen als den im Mutterleib", stellte Ex-­Justizminister Harald Ofner fest), von der Abtreibung zur Tötung behinderter Kinder in den ersten Lebenstagen (Gesetz­entwurf „Caillavet" im französi­schen Senat, Gott sei Dank abgelehnt), von der Abtreibung zur Euthanasie (Gesetzentwurf im holländischen Parlament, Gott sei Dank durch Parlaments­auflösung ad acta gelegt) ...
Es ist höchste Zeit, von diesem Todeskurs abzugehen.

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