VISION 20001/1989
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Jeder Mensch: ein neues Zentrum der Welt

Artikel drucken (Joseph Kardinal Ratzinger)

Bisher wurde die Herkunft des Menschen durch die Begriffe "Zeugung" und "Emp­fängnis" sprachlich ausge­drückt. In den romanischen Sprachen gibt es darüber hinaus das Wort "Prokreation", das auf den Schöpfer hinweist, dem sich jeder Mensch zuletzt ver­dankt. Nun aber scheint statt­dessen das Wort "Reproduk­tion" die Weitergabe des Menschseins am bündigsten zu beschreiben.
Das Wort Reproduktion deutet den Vorgang der Entstehung eines neuen Menschen aus den Erkenntnissen der Biologie über die Eigenschaften leben­der Organismen: Ihnen kommt es zu, sich selbst reproduzieren zu können. Ein besonderer Nachdruck liegt auf der Inva­rianz: Der einmal gegebene ge­netische Code wird unverändert immer neu reproduziert. Jedes neue Individuum ist eine ge­naue Wiederholung der glei­chen "Botschaft". Reproduktion verweist auch auf den mechanischen Charakter, in dem sich solche Nachbildung vollzieht. Jerome Lejeune hat es kurz so formuliert: "Sobald die 23 väterlichen Chromoso­men, die vom Spermatozoon herbeigebracht werden, und die 23 mütterlichen, im Ei getrage­nen, vereinigt sind, ist die ge­samte Information versammelt, die nötig und ausreichend ist, um die genetische Konstitution des neuen menschlichen Seins zu bestimmen."
Die Reproduktion der Spezies Mensch vollzieht sich durch die Vereinigung zweier Informa­tionsbänder, können wir also ganz grob abkürzend sagen. Die Richtigkeit dieser Beschrei­bung steht außer Zweifel, aber ist sie auch vollständig? Zwei Fragen drängen sich hier unvermittelt auf: Ist das so re­produzierte Wesen nur ein wei­teres Individuum, ein reprodu­ziertes Stück der Spezies Mensch - oder ist es mehr: eine Person, d.h. ein Wesen, das einerseits unveränderlich das Gemeinsame der Gattung Mensch darstellt und anderer­seits doch etwas Neues, Ein­zigartiges, nicht Reproduzier­bares ist, mit einer Einmalig­keit, die über die bloße Indi­viduation des gemeinsamen Wesens hinausgeht?
Wenn dies, woher rührt diese Einmaligkeit? Damit hängt die zweite Frage zusammen: Wie kommen die beiden Informa­tionsbänder zueinander?
Die Antwort scheint zunächst das Selbstverständlichste von der Welt: Die beiden einander ergänzenden Informationen kommen zueinander durch die Vereinigung von Mann und Frau, durch ihr "Ein-Fleisch-­Werden", wie die Bibel es aus­drückt. Der biologische Vor­gang der Reproduktion ist ein­gehüllt in einen personalen Vorgang der leib-seelischen Zuwendung zweier Menschen. Dadurch, daß es gelungen ist, im Laboratorium sozusagen den biochemischen Teil des Ganzen zu isolieren, ist aber nun die Frage entstanden: Wie notwendig ist dieser Zusam­menhang? Ist er dem Gesche­hen als solchem wesentlich, soll und muß es so sein, oder handelt es sich nur um eine List der Natur, die den Trieb der Menschen zueinander so ähn­lich verwendet, wie sie im pflanzlichen Bereich den Wind als Transportmittel des Samens benützt oder die Bienen? Hier erheben sich unterschied­liche Gegenfragen: Kann man das Zueinander von Mann und Frau als bloßen Naturvorgang bezeichnen? Oder muß man genau umgekehrt sagen: Mit der Liebe zweier Personen und der geistigen Freiheit, aus der sie kommt, tritt eine neue Dimension des Wirklichen in Er­scheinung, der es dann ent­spricht, daß auch das Kind nicht bloße Wiederholung in­varianter Informationen, son­dern Person ist, in der Neuheit und Freiheit des Ich, das ein neues Zentrum in der Welt bil­det? Und ist nicht einfach blind, wer dies Neue leugnet und das All auf reine Mechanik reduziert?
Offensichtlich kann man heute den biochemischen Vorgang im Laboratorium isolieren und so die beiden Informationen zueinander bringen. Die Ver­bindung mit dem geistig-per­sonalen Geschehen ist also nicht durch jene Art von "Not­wendigkeit" zu definieren, die im physikalischen Bereich gilt: Es geht auch anders. Aber die Frage ist, ob es nicht eine ande­re Art von "Müssen" gibt als die bloß naturgesetzliche ...
Die Alternative, vor der wir heute stehen, läßt sich nun sehr präzis formulieren: Man kann entweder nur das Mechanische, das Naturgesetzliche als wirk­lich ansehen und alles Persona­le, die Liebe, das Schenken als schönen Schein betrachten, der psychologisch nützlich, aber letztlich irreal und unerheblich ist. Ich finde für diese Position keine andere Bezeichnung als: Leugnung des Menschen. Ordnet man sich dieser Logik unter, dann wird selbstverständ­lich auch der Gottesbegriff zur mythologischen Rede ohne Realitätsgehalt.
Daneben steht aber - die andere Alternative - der genau umge­kehrte Weg: Man kann das Per­sonale als die eigentliche, stär­kere und höhere Wirklichkeits­form betrachten, die das andere - das Biologische und das Me­chanische - nicht zum Schein macht, aber es in sich aufnimmt und ihm so eine neue Dimen­sion erschließt.
Dann erhält nicht nur der Got­tesbegriff Sinn und Bedeutung. Dann erscheint auch der Natur­begriff in neuem Licht, weil Natur dann nicht nur eine zufäl­lig sinnvoll funktionierende Anordnung von Buchstaben und Zahlen, sondern eine mora­lische Botschaft in sich trägt, die ihr vorausgeht und die auf den Menschen zugeht, um in ihm Antwort zu finden.
Es liegt in der Natur der Sache, daß über das Recht der einen oder der anderen Grundent­scheidung nicht im Labor ent­schieden werden kann. Über die Selbstbestreitung des Men­schen kann der Mensch nur entscheiden, indem er sich ent­scheidet: sich anzunehmen oder sich abzuschaffen.

Auszug aus "Der Mensch zwischen Re­produktion und Schöpfung" in "Com­munio" 1/1989

 

Wir reduzieren die Dinge auf bloße Natur, bloße Tatsachen, damit wir sie erobern können. Es ist der alte Pakt mit dem Magier: Gib mir deine Seele, und du wirst dafür Macht erhalten. Aber haben wir unsere Seele, das heißt unser Selbst einmal aufgegeben, wird die so eingetauschte Macht nicht mehr uns gehören. Es liegt in des Menschen Macht, sich selbst als bloß "natürliches Objekt" zu verstehen. Der Einwand liegt darin, daß der Mensch, der sich selbst als Rohmaterial verstehen will, auch Rohmaterial wird."

"Die Abschaffung des Menschen" C.S. Lewis

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