VISION 20001/1989
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Abhängig - und doch frei

Artikel drucken (Alexa Gaspari)

Regelsbrunn östlich von Wien: Ich bin gekommen, die Kleinen Schwestern Jesu zu interviewen. Aber ehe ich es richtig bemerkt habe, sitzen wir alle um den gemütlichen Holz­tisch in der Stube bei einer Tasse Tee - und ich erzäh­le eine Stunde lang von mir! Sie hatten mir einfach das Gefühl gegeben, an meinem Leben, meinen Sorgen und Freuden Anteil nehmen zu wollen.

Andere Menschen mit von Herzen kommender Auf­merksamkeit zu empfangen, ihnen Geborgenheit zu vermitteln, ist tatsächlich ei­nes der großen Anliegen der Kleinen Schwestern. Immer ist jemand im Haus, um eventuelle Besucher empfangen zu können. Sie führen zwar ein kontemplati­ves Leben - aber mitten in der Welt. Damit folgen sie dem Bei­spiel Bruder Charles de Fou­caulds, dem geistigen Gründer der Kleinen Schwestern Jesu.
Sie betrachteten sich als eine Ordensgemeinschaft, die sich sozial zur Schicht der Arbeiter, der sogenannten "kleinen Leu­te", zählt. Sie wollen Jesus auf dem Weg der Demut und des ein­fachen Lebens folgen. Als "Klei­ne Schwestern von-gar-nichts" stellten sie sich 1944 dem Heili­gen Vater Pius XII in Rom vor. Die Fraternität in Regelsbrunn, nahe der Grenze zum Osten, ist vor ungefähr 30 Jahren entstan­den. Erster Sinn und Zweck war es, Gebetshilfe für die Ostländer zu leisten. Der Ostblock sollte vom Gebet richtig umzingelt werden. So wurden auch in Alas­ka und Japan Fraternitäten der Kleinen Schwestern gegründet. Mittlerweile gibt es sie in der ganzen Welt: etwa in Marokko und im Libanon, in Südafrika und Chile (wo sie im ärmsten Hafenviertel leben), in Argenti­nien (als Taglöhnerinnen) oder in Indien; immer sind sie mit den Ärmsten, teilen deren Leben und Not.
In Regelsbrunn sind die Kleinen Schwestern Kleinbauern. Grundbesitzer ihrer acht Hektar aber ist die Erzdiözese, denn eine der Ordensregeln besagt: kein Besitz. Vor 24 Jahren, als Schwe­ster Claire-Frederique - Franzö­sin mit echt einheimischem Dia­lekt - nach Regelsbrunn kam, gab es noch viele relativ arme Klein­bauern. Deshalb wählten die Kleinen Schwestern damals die­sen Lebensstil. Sie wollten arm sein, "nicht weil wir meinen, daß arm sein ein Ideal ist. Wir wollen ja auch nicht, daß die Armen in ihrer Armut drinnen bleiben. Es geht uns nur darum, ihre Lebens­bedingungen zu teilen, in den gleichen Häusern zu wohnen wie sie, von derselben Nahrung zu leben wie sie, die gleiche Not zu erleiden", so wird es mir erklärt. Denn teilen wollen sie eigentlich alles, was sie haben, vor allem aber das, was ihnen am liebsten ist, nämlich die Liebe Gottes. Sie wollen, "daß die Menschen merken, daß sie nicht allein sind, daß sie geliebt werden."
Und die Menschen in Re­gelsbrunn haben ge­merkt, daß sie jedenfalls von den Kleinen Schwe­stern geliebt werden: Wo immer Hilfe gebraucht wird, springen die Kleinen Schwestern ein. Sie pflegen Kranke, kommen zu den Sterbenden, schaufeln im Winter einer alten Frau den Eingang zu ihrem Haus frei, sie machen für einen Nachbarn die Stallarbeit, wenn dieser verhindert ist, besu­chen die Kranken, die im Spital sind. "Sie sind einfach immer da, wenn jemand Sorgen hat und nicht weiß, wohin er sich wenden kann. Zu den Kleinen Schwe­stern traut sich jeder gehen", versichern mir zwei Regelsbrun­ner Nachbarinnen der Schwe­stern. Dabei ist es gleichgültig, welcher Religion der Betroffene angehört.
Die Kleinen Schwestern sind für alle im Ort glaubwürdig gewor­den. Ihnen vertraut jeder in der Gemeinde. "Sie haben den besten Kontakt zu Leuten, die nie in die Kirche gehen, sind mit allen gleich gut, und ich kenne nieman­den", so meint eine Regelsbrun­nerin, "der mit den Schwestern nicht gut auskäme."
Mir wird klar: Die Kleinen Schwestern haben einen beson­deren Zugang. Sie geben Zeug­nis durch ihr Leben, durch ihre Bereitschaft zu teilen, durch das Angebot ihrer unbedingten Freundschaft und nicht so sehr durch das Wort. Der Erfolg stellt sich daher nicht von heute auf morgen ein, denn Vertrauen braucht Zeit zum Wachsen.
"Es hat vielleicht etwa 10 Jahre gedauert, bis man mir wirklich geglaubt hat, daß mein Bemü­hen um die anderen, meine
Freundschaft, echt sind", erin­nert sich die Kleine Schwester Claire-Frederique zurück. Ich habe mir dabei gedacht, daß es uns auch bei anderen Gelegen­heiten oft schwer fällt, an den guten Willen und die Ehrlichkeit zu glauben. Auf diese Art haben die Schwestern jedoch Men­schen erreicht, die sonst nie mit Kirche, Glauben, kurz mit Chri­stus in Berührung gekommen wären. Anderen wiederum ha­ben sie unbewußt Mut gemacht, sich selbst auch mehr zu engagie­ren. So entstand zunächst aus der Initiative zweier Frauen eine Ba­stelrunde, aus der dann später eine Gruppe mit vielen anderen Akti­vitäten für die Pfarre wurde. "Aber", so sagt mir meine Ge­sprächspartnerin, "wenn es die Kleinen Schwestern nicht gege­ben hätte, dann hätten wir uns das alleine nicht zugetraut, wäre all das nicht geworden."

In jeder Fraternität - auch in Regelsbrunn - steht eine Krippe, genauer gesagt das Jesuskind in einem Strohkorb; dieses Kind soll die Schwestern daran erin­nern, daß Jesus sein Leben auf Erden als Baby begonnen und sich damit bewußt in die Abhän­gigkeit anderer Menschen bege­ben hat. Die Kleinen Schwestern sind zu dieser Haltung kindli­chen, rückhaltlosen Vertrauens aufgerufen, und es gelingt ihnen auch, andere Menschen ganz selbstverständlich dahin zu füh­ren:
Als sie vor vielen Jahren ihr Leben als Kleinbauern in Regelsbrunn begannen, hatten sie nur wenige Geräte und mußten daher andere Bauern bitten, ihnen die Rüben anzubauen, die Wiese zu mähen usw. Umgekehrt benötigten auch die Bauern ihre Hilfe, wie z.B. zum Erdäpfelklauben, Rüben­scheren und ähnlichem. Zuerst wurde jede geleistete Arbeit minutiös mit Geld oder mit Arbeitsstunden abgegolten, so wie es schon immer im Ort Brauch gewesen war. Schließlich aber schrieben die Schwestern die von ihnen geleisteten Arbeitsstunden nicht mehr auf und brachten damit die bestehenden Struktu­ren im Ort durcheinander. Nach wie vor waren sie natürlich be­reit, Arbeitszeit oder Geräte aus­zutauschen. Nur wollten sie, daß dies auf Freundschaftsebene und auf Vertrauensbasis geschehen sollte. Nun arbeiten sie mit eini­gen Bauern auf Kompagnonebe­ne, sie sind Freunde geworden, und es wird nicht mehr haar­scharf abgerechnet. Wenn früher jeder Bauer meinte, jedes Gerät selbst haben zu müssen, um nur ja nicht vom anderen abhängig zu sein, so sehen viele jetzt, daß es gemeinsam besser geht, daß Abhängigkeit vom Nächsten auch positiv sein kann.
Für die Kleinbauern reicht aber auch das nicht. "Im Ort sind wir mittlerweile die letzten Voller­werbsbauern. Alle anderen ha­ben sich einen Nebenerwerb suchen müssen. Jetzt stellt sich auch für die Fraternität die Frage: Sollen wir uns einen Nebenerwerb suchen wie die anderen oder sollen wir gemeinsam mit ihnen alternative Wege zum Überleben suchen?"
Ich spüre, wie sehr Claire-Frede­rique den Menschen hier helfen möchte, Lösungen zu finden. Nicht ihr eigenes Überleben macht ihr die größten Sorgen, sondern das ihrer Nachbarn und Freunde. Aber ich bin sicher, daß an diesem Ort der Hoffnung gemeinsam und im Gebet vieles bewältigt werden kann.

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