VISION 20004/1989
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Wie sehen uns die anderen?

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Was fällt Menschen auf, die unsere Art zu leben erstmals (oder nach längerer Abwesen­heit) beobachten? Wir haben (auch durchaus kritische) Antworten auf diese Frage zusam­mengetragen. Mancher mag nun denken: Wo bleibt da der positive Zugang der Zeitschrift? Dazu wäre folgendes zu sagen: Nicht um ge­nüßlich im Negativen zu wühlen, bringen wir diese wohlwollenden Kritiken, sondern um unseren Blick für so manche fragwürdige Selbstverständlichkeit zu schärfen.

 

Tatjana Goritschewa

Meine Erfahrung im We­sten ist die: Da kann man jahrelang mit ei­nem Menschen bekannt sein, man kann im Umgang mit ihm lieb und freundlich sein, aber man bringt es nicht fertig, ihn zu erkennen! Weil er das nicht will (es vielleicht auch nicht kann) und du auch nicht. Im Westen ist alles allzu gut organisiert und zu perfekt gestaltet, als daß da noch ein Spalt bliebe für die Person. Es gibt ganz wenige, die fähig sind, einfach zu leben.
Deshalb ist im westlichen Leben das Schecklichste die Einsam­keit. Allein zu sein ist eine echte Tragödie ... Auch deshalb ist die Arbeitslosigkeit so schrecklich. Es ist nicht nur das fehlende Geld: Der Mensch ist aus der Gesellschaft herausgefallen. Er ist allein. Und Bindungen nicht formeller Art, die bei uns in Rußland so entwickelt sind, gibt es hier im Westen fast nicht mehr.
Wenn ich vor westlichen Chri­sten spreche, bin ich oft gezwun­gen, "lebhaft", expressiv und stark zu sein. Weil in Europa nicht unsere Leidenschaft und Energie herrschen, sondern Tod und Kraftlosigkeit. Hier muß man, um ein Gespräch über den Geist in Gang zu setzen, erst einmal Interesse hervorrufen, vom Schlaf aufwecken, "das Wohlbefinden sprengen".
Natürlich kenne ich den Westen fast nicht, und so Gott will, habe ich unrecht. Aber mir scheint, daß es dort die Versuchung eines allzu wohlbehaltenen, "rosaro­ten" Christentums gibt. Wenn man das Böse auch anerkennt, so nur als ein naturgegebenes oder soziales Böses, d.h. als Böses ohne indviduelle oder charakte­ristische Eigenschaften und nicht als Böses, das sich in konkreten Personen angesiedelt hat. Und doch hat Christus Dämonen aus Menschen ausgetrieben.
Die Zeit liegt lange hinter mir, als ich an einer theologischen Hoch­schule in Deutschland studierte und die Erfahrung machen muß­te, daß da mehr über Gott gelacht wurde als daß man, von Seiner Größe und Herrlichkeit ergrif­fen, seine Wirklichkeit verkün­det hätte. Ich bin vor einem sol­chen theologischen Studienbe­trieb geflüchtet. Eine schreckli­che Erinnerung habe ich an eine Versammlung, bei der die Teil­nehmer überwiegend katholi­sche Priester waren. Als ich von der Wichtigkeit des Kreuzes sprach ("Nimm dein Kreuz auf dich, und folge mir nach"), stürz­ten sie sich auf mich wie auf eine Verbrecherin: "Das ist doch Masochismus." Und doch waren es keine dummen Leute, die das gesagt hatten. Im Gegenteil, an sich waren diese kirchlich be­stallten Ausleger des Wortes Gottes sympathische, gebildete Menschen, die ihren Nächsten Gutes wünschten. Nur beten konnten sie überhaupt nicht. Die meisten sagten, daß "die Periode des Gebets" bei ihnen schon weit zurückliege.
Während eines äußerst kurzen "Gottesdienstes", der diese Be­zeichnung kaum verdiente, er­hellte sich das Gesicht nur bei einer alten Frau "aus dem Volk", die sich dort zufällig eingefun­den hatte. Die übrigen aber saßen wie vorher schon mit kalten und gleichmütigen Mienen da, als ob da irgendein Tagungsgeschehen abliefe ... Und dennoch gibt es das gläubige, einfache Volk, in Deutschland wie in Frankreich. Das heißt, es gibt den Glauben an die Notwendigkeit des Opfers und das Gefühl des Sieges über die Welt, über die Sünde ...

Hier im Westen habe ich auch Menschen getroffen, die die Kühnheit der Liebe, die Unbän­digkeit der Freude und die Fülle der Kirchlichkeit in sich tragen.
In den ersten Jahren meiner Emigration, als ich oft Vorträge hielt vor Tausenden westlicher junger Menschen, freute ich mich: Wie klug sie schon sind. Sie haben sogar in der materiali­stischen westlichen Welt zu Gott gefunden. Dann begann ich zu bemerken, daß es durchaus nicht Gott ist, der viele von ihnen ver­bindet. Die meisten treten in die­se christlichen Jugendbewegun­gen ein, weil es nichts anderes gibt, dem sie sich anschließen könnten. Sie suchen Freund­schaften, freundschaftliche Be­ziehungen, ihren Kreis, die Mäd­chen halten Ausschau nach ei­nem Bräutigam.

Nach 30 Jahren, wenn sie sich dann eine Familie, ein Haus, zwei Kinder angeschafft haben, verläßt die Mehrzahl der jungen Leute diese Bewegungen. Damit ist das Prinzip klar: Solange du jung bist, kannst du die ganze weite Welt durchreisen, kannst dich unter deinen Altersgenos­sen herumdrücken, von einer all­gemeinen Einheit, von Frieden und Brüderlichkeit träumen, aber dann fordert das ernsthafte, bür­gerliche Leben seine Rechte. Und dennoch sucht das Herz eines jeden Menschen Gott, und man muß sich freuen, daß es Orte wie Taizé gibt, wo diese jungen Leute hinfahren können.
Ich sehe hier die Menschen, die einfach nichts brauchen und kei­ne innere Spannung haben. Man wartet nicht so auf das Wort der Wahrheit und Rettung. Ich spre­che nicht über alle, sondern über das, was ich im Durchschnitt sehe. Oft weiß ich selbst nicht, über welche Dinge ich mit den Menschen sprechen könnte. Es ist schwer, die Achillesehne zu finden und einen Platz in der Seele des Menschen zu entdecken, wo man erkennen kann, daß er leidet, und was ihm fehlt. Das Leiden ist gut und tief verborgen. Die Lage der Kirche hier ist viel schwieriger als die Lage der Kir­che in Rußland, die von außen her unter Druck steht, aber die innere Freiheit besitzt. Hier hat die Kirche zwar die äußere Frei­heit, aber innen ist sie sehr schüchtern. Sie hat keine Macht. Ich sehe hier, daß viele Priester zu schüchtern sind, um über Gott zu sprechen ...

Auszüge aus "Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück", Herder, Freiburg 1989

 

Alex Okot

Natürlich hängen meine Eindrücke von Europa stark von den verschiedenen Menschen ab, denen ich in Italien, Österreich und Deutschland begegnet bin. Aber vielleicht ist es interessant, über meine ersten europäischen Ein­drücke in Rom zu sprechen, als ich gerade aus meiner Heimat Uganda angekommen war. Im Gespräch mit Studenten fiel mir auf, daß sie sehr freie Menschen sind. Sie sprechen mit Dir in einer sehr offenen Weise. Man könnte fast glauben, ihnen schon vorher begegnet zu sein. Es fal­len alle Formalitäten weg. Oft weiß man gar nicht, wie sie hei­ßen.
Auf der anderen Seite passierte es mir oft, daß ich das Verhalten von Menschen mißdeutete: Je­mand war sehr freundlich zu mir, aber es stellte sich nur allzubald heraus, daß er an mir gar kein wirkliches, sondern nur ein "geschäftliches" oder sonstiges Interesse gehabt hatte. Also eine gewisse Offenheit - aber vorder­gründig und interessenbezogen. Auch, was das Familienleben anbelangt, erlebte ich Überraschungen. Bei uns ist der Vater sehr oft abwesend. Wir haben wenig Beziehung zu ihm. Er arbeitet, und seine Freizeit ver­bringt er außerhalb der Familie. Hier sind die Väter - jedenfalls dort, wo die Familien funktionie­ren - viel stärker integriert.
Ja, und dann erlebt man als dun­kelhäutiger Mensch doch einige Überraschungen im Umgang mit den Menschen hier, besonders in Österreich und Deutschland: Da gibt es Leute, die erklären mir einfach, daß sie mit mir nicht reden wollen, weil ich ein Schwarzer bin. Das kann mitten in Unterhaltungen passieren, wie etwa kürzlich in einer größeren Runde im Kaffeehaus. Aber auch auf offener Straße bin ich schon angepöbelt worden.
Mir kommt vor, daß sich die Jugend hier in ihren Vorstellun­gen und in ihrem Lebensstil viel stärker von der Generation ihrer Eltern abzusetzen versucht, als dies bei uns der Fall ist. Hier scheint es mir keine allgemein verbindlichen Werte zu geben, die den Menschen in Problemsi­tuationen anzeigen, wie sie sich verhalten sollten. Und daher gibt es für die heranwachsenden jun­gen Menschen keinen Rahmen, der ihnen Halt gibt.
Und das führt mich zu einer wei­teren Beobachtung: Eure Jugend hier tut sich schwer mit Autorität. Wir haben Respekt vor den alten Menschen, vor ihnen ganz be­sonders, aber auch vor jenen, die älter sind als wir, sei es ein Bru­der oder eine Schwester. Daher spielen die älteren auch in der Erziehung bei uns eine viel grö­ßere Rolle als hier. Hier in Euro­pa kommt dem Bildungssystem eine große Bedeutung zu. In Uganda wäre es etwa undenkbar, die Sexualerziehung in die Schu­le zu verlegen. Ja - vielleicht für rein biologische Aspekte. Bei uns werden insbesondere die Mad­chen stets in der häuslichen Umgebung von den erwachsenen Frauen in die Fragen der Sexuali­tät eingeführt und zwar in den Küchen, in denen eindeutig die Frauen das Sagen haben.
Und das bringt mich zu einer weiteren Beobachtung: Der freie Umgang, den Burschen und Mädchen miteinander haben. Es war wie im Film, sie bis spät in die Nacht miteinander herumziehen zu sehen, sie miteinander leben zu sehen. Bei uns spielen nur die kleinen Kinder alle miteinander. Ab einem bestimmten Alter ver­bringen Burschen und Mädchen im allgemeinen ihre freie Zeit nicht zusammen. Man trifft sich vielmehr zu besonderen Anläs­sen, bei Festen, bei traditionellen Tänzen. Ich will die hiesige Form keineswegs verurteilen. Wahr­scheinlich hätte ich mir auch gewünscht, einen solchen Um­gang zu haben.
Kinder wachsen hier ganz anders auf als bei uns. Sie sind dauernd in Kontakt mit Erwachsenen, werden von ihnen überwacht oder angeleitet. Man sagt ihnen: Tu dies, tu jenes. Man zerbricht sich dauernd über die Kinder den Kopf. Bei uns haben Kinder viel mehr Freiraum, sind viel mehr unter sich, spielen irgendwo ohne Beaufsichtung durch Erwachsene. Das heißt nicht, daß sie in jeder Beziehung alles tun dürfen. Im Gegenteil im Umgang mit den Menschen in der Gemeinschaft gibt es sehr strenge Regeln, deren Einhaltung verlangt wird. Aber in der Gestaltung des Alltags ist man frei. Das fördert die Kreati­vität, die Phantasie. Das Aufzie­hen von Kindern ist hier sehr problematisiert.

Mir fällt auch auf, daß ihr die Kinder hier allzu sehr verwöhnt. Sie bekommen dauernd etwas. Das können Sachen sein. Es kann sich aber auch um Unterhaltung handeln - etwa in Form von sehr häufigem Fernsehen. Darf es ei­nen dann wundern, wenn sie dauernd etwas haben wollen - und sich dann gar nicht mehr so recht darüber freuen. Sie meinen ja, darauf Anspruch zu haben.

Alex Okot studiert Soziologie in Rom.

 

Tony Festin und Joy Quindoza

Unsere Begegnung mit Eurer Jugend und Euren Kindern schuf eine le­bendige und freudige Atmosphäre. Wir bemerkten ihre Wißbegierde, nicht nur uns selbst besser kennenzulernen, sondern auch unsere Lebensart ... Als wir die Jugend näher kennen­gelernt hatten, fühlten wir, daß sie nach neuen Strukturen und nach neuem Lebenssinn sucht und dabei auf Hilfe und Führung in ihren Gemeinden hofft.
Unsere Besuche in den verschie­denen Schulen ließen uns erken­nen, daß Eure Schüler und Stu­denten in der glücklichen Lage sind, kostenlose Schulbildung zu haben. Andererseits haben wir festgestellt, daß trotz dieser ver­besserten Möglichkeiten wie Gratisschulbücher, Freifahrten, vielleicht auch kostenlose Mahl­zeiten, die Schüler diese Privile­gien nicht schätzen. Es herrscht der Geist, daß der Staat für alles verantwortlich ist, weil ja die Eltern Steuern zahlen.
Wir erkennen, daß Eure alten und kranken Leute, die an den Rand ihres Lebensgebäudes gedrängt werden, mehr Zuwendung brauchen. Wir waren wegen ihrer Einsamkeit und Leere zu Tränen gerührt. Sie fühlen diese Einsam­keit umso mehr in ihrer Krank­heit und Abhängigkeit und auch deshalb, weil sie von ihren Ge­liebten getrennt sind.
Euer Lebensstandard ist tatsäch­lich hoch, sodaß wir niemals auf die Idee kamen, daß es auch Leute gibt, die kein Zuhause haben, und die sich als Außensei­ter der Gesellschaft fühlen.
Die Arbeiter in den Fabriken und die Angestellten in den verschie­denen Ämtern und Firmen stehen unter Zeitdruck, weil Zeit gleich­gesetzt wird mit Geld, und Lebensqualität basiert auf Geld. Dasselbe gilt für die Marktleute. Dieses Arbeitssystem vermin­dert die Zeit, die man mit den Familien, mit den Nachbarn, mit den Mitarbeitern, mit sich selbst und mit Gott verbringen könnte. Daraus ergibt sich, daß Ihr indi­vidualistisch werdet und die Fol­gen, die sich daraus für die Ge­sellschaft ergeben, nicht erkennt.
In den alten Kirchen hatten wir das Gefühl, in einem Museum zu sein. Der Triumphalismus herrscht hier vor, der im Gegen­satz zu dem steht, was wir anstre­ben: eine Kirche der Armen zu werden. In Melk berührte es uns sehr schmerzlich, daß wir die Kirche nicht betreten und beten durften, weil wir keine Touristen waren. Wir erkannten jedoch auch, daß diese Art von Kirchen ein Teil Eures Erbes ist und daß wir Euch nicht beurteilen kön­nen, wenn wir nicht Eure lange Geschichte kennen.
Euer Lebensstandard ist hoch, Ihr habt ein höheres Einkommen, aber Ihr müßt auch mehr ausge­ben, um diesen Standard auf­rechtzuerhalten. Und Ihr müßt schwer für all das arbeiten und tauscht dafür Werte wie Bezie­hungen zueinander, Kommuni­kation und Zeit für andere ein. Wir glauben immer noch, daß Ihr diese Art von System, diesen Lebensstil nicht wollt. Und wir merkten auch, daß Ihr Euch bemüht, einen besseren Weg zu finden, einen Weg, der Eure Gesellschaft menschlicher macht.
Während unseres Mitlebens mit Euch haben wir sehr viel guten Willen in Euch entdeckt, inso­fern als Ihr aus Euch herausge­gangen seid, um unseren Aufent­halt sinnvoll und fruchtbringend zu machen. Dadurch haben wir gesehen, daß wir wirklich etwas gemeinsam haben, was wir immer hochschätzen und be­wahren wollen: Unsere Gast­freundschaft und Wärme zuein­ander.

Aus dem Abschlußbericht des Besuchs einer Gruppe von Philippinen, die als Verteter der Diözese Infanta dem Vika­riat Süd der Erzdiözese Wien, mit dem sie eine Partnerschaft verbindet, einen mehrwöchigen Besuch abgestattet ha­ben.

 

Alexander Solschenizyn

Als die modernen westli­chen Staaten gegründet worden sind, wurde das folgende Prinzip verkündet: Die Regierungen sollten im Dienst der Menschen stehen, und die Menschen sollten frei sein, um ihr Glück zu verfolgen. Nun hat der technische und gesell­schaftliche Fortschritt - jeden­falls in den letzten Jahrzehnten - die Verwirklichung dieses Zie­les ermöglicht. Das Ergebnis ist der Wohlfahrtsstaat. Jedem Bür­ger steht heute so viel an Freiheit und an materiellen Gütern zu, um ihm zumindest theoretisch ein glückliches Leben - zumin­dest in dem moralisch eher min­derwertigen Sinn, den dieser Begriff in den letzten Jahrzehn­ten angenommen hat - zu ermöglichen.­

In dieser Entwicklung wurde jedoch ein psychologisches De­tail übersehen. Der anhaltende Wunsch, immer mehr und mehr Güter zu besitzen, ein besseres Leben zu führen und der Kampf, diese Ziele zu erreichen, prägen den Gesichtern vieler hier im Westen einen Ausdruck von Sorge, ja von Depression auf - obwohl man ja gewohnheitsmä­ßig solche Gefühle zu unterdrüc­ken versucht.
Die Menschen im Westen haben ein besonderes Geschick im Umgang, in der Interpretation und in der Manipulation der Gesetze entwickelt, obwohl die­se für den Normalverbraucher so kompliziert sind, daß er zu ihrem Verständnis eines Experten be­darf. Jeder Konflikt wird nach dem Buchstaben des Gesetzes entschieden, und dies gilt als der Weisheit letzter Schluß. Ist je­mand vom rechtlichen Stand­punkt aus im Recht, so genügt das. Freiwillige Selbstbeschrän­kung erlebt man fast nie. Jeder agiert an der Grenze der vom Gesetz bezeichneten Möglich­keiten.
Einer zerstörerischen und ver­antwortungslosen Freiheit wur­de grenzenlos Raum gewährt. Die Gesellschaft scheint wenig Abwehrkräfte gegen die ab­grundtiefe Dekadenz des Men­schen, etwa gegen den Freiheits­mißbrauch zur moralischen Ver­gewaltigung der Jugend, gegen pornographische Filme, Verbre­chen und Horror zu haben. Das wird als Teil der Freiheit angese­hen. Sie werde theoretisch vom Recht der Jugend, sich all das nicht anzuschauen oder es abzu­lehnen, ausgeglichen. Ein rein rechtlich organisiertes Leben zeigt damit seine Unfähigkeit, sich gegen die Unterwanderung durch das Böse zu verteidigen.

Ohne jede Zensur werden im Westen modische Denkrichtun­gen und Ideen sorgfältig von den nicht modischen getrennt. Es ist zwar nichts verboten, aber das, was nicht "in" ist, wird kaum jemals seinen Weg in Zeitschriften und Bücher finden oder an Hochschulen unterrichtet wer­den.
Dem Gesetze nach sind Eure Forscher frei, aber ihr Tun wird bedingt von den Moden des Tages. Nein, es gibt nicht die offene Gewaltanwendung wie im Osten. Aber die Auswahl, die von Moden und von der Notwen­digkeit, der allgemeinen Norm zu entsprechen, diktiert wird, verhindert, daß selbständig den­kende Menschen sich in den Dienst der Öffentlichkeit stellen. Es gibt hier eine gefährliche Tendenz zur Herdenbildung ...

Die westliche Lebensart verliert zunehmend ihre Vorbildfunk­tion. Es gibt tiefsinnige Warnun­gen, die die Geschichte einer bedrohten oder zugrundegehen­den Gesellschaft gibt. Solche sind zum Beispiel die Dekadenz der Kunst und das Fehlen großer Staatsmänner.
Wir stehen vor einer Katastro­phe, die schon lange Zeit unter­wegs ist. Ich spreche vom Elend, das ein religionsloses und den Geist verleugnendes humanisti­sches Bewußtsein darstellt. Für diese Sicht ist der Mensch der einzige Prüfstein. Er richtet und bewertet alles, er, der unvoll­kommene Mensch, der niemals frei von Stolz, Eigensucht, Neid, Eitelkeit und einem Dutzend anderer Untugenden ist. Wir sind jetzt mit Folgen jener Fehler konfrontiert, die wir zu Beginn unserer Reise gemacht haben. Von der Renaissance bis heute haben wir zwar unsere Erfahrun­gen enorm erweitert, aber die Vorstellung von einem Höchsten Wesen, das unsere Leidenschaf­ten und unsere Unverantwortlichkeit in Grenzen zu halten pflegte, verloren. Wir haben unsere Hoffnung allzu stark auf politische und gesellschaftliche Reformen gesetzt, um nun zu entdecken, daß wir unser wert­vollstes Gut verloren haben: das spirituelle Leben. Im Osten wur­de dies durch das Handeln und die Manipulation der herrschen­den Partei bewerkstelligt. Im Westen sind es die wirtschaftlichen Interessen, die den Geist ersticken. Das ist der Kern der Krise.

Auszug aus der Rede von Alexander Solschenizyn anläßlich der Verleihung des Ehrendoktorates an den russischen Autor durch die Harvard Universität im Juni 1978, zitiert in "Harvard University Gazette" vom 8.6.1978

 

Heinz Gattringer

Wohl einer der deutlich­sten Eindrücke bei un­serer Rückkehr aus Zimbabwe war die Überfülle des Angebots in den Geschäften. Wir haben uns rich­tig erschlagen gefühlt. Wir haben uns damals vor zwei Jahren immer wieder gefragt: Ist denn das alles wirklich notwendig?
Wir hatten ja erlebt, wie die Leute in Zimbabwe in die Städte einkaufen gefahren sind. Einge­pfercht in Busse brachten sie von zuhause ihre Produkte auf den Markt, um sie zu verkaufen. Und was sie dann dafür erworben haben, war eben das Lebensnot­wendige, nichts Besonderes. Aber die Leute waren dabei - ohne daß ich das jetzt übertrieben idealisieren möchte - mit dem wenigen glücklich, zufrieden. Wenn man hingegen hier Leuten beim Einkaufen zuschaut!
Etwas anderes ist auch zu erwäh­nen: Entwicklungshelfer leben in der Dritten Welt meist in einer Umgebung, die sie sehr offen empfängt. Da erlebt man eben fast einen Schock, wenn man in die weitaus kühlere, industriali­sierte Gesellschaft zurück­kommt. In Zimbabwe steht der Mensch im Mittelpunkt, und die menschlichen Beziehungen ge­hen vor den funktionsnotwendi­gen Abläufen. Bevor man eine technische Vereinbarung trifft, ist es wichtig eine persönliche Beziehung anzuknüpfen. Die meisten Menschen in Afrika schätzen es, wenn man sich für sie Zeit nimmt, sich für ihre Lebensumstände interessiert, wenn man seine Mitarbeiter be­sucht. Und dabei merkt man dann, wie sehr das Teilen für die Menschen dort wichtig ist Da verdient einer - und erhält eine ganze Großfamilie.
Und das erlebt man hier ganz anders. Hier spürt man, wie stark unsere Gesellschaft individuali­stisch orientiert ist. Die Freiheit, die wir hier beanspruchen (und die in vieler Hinsicht positiv ist), hat ein zweites Gesicht. Hier haben die meisten Menschen einfach zu wenig Beziehung zu ihren Mitmenschen, zur Nach­barschaft, zu den Mitarbeitern. An der Schule etwa, an der ich zunächst nach meiner Rückkehr unterrichtet habe, da haben die meisten einfach darauf geschaut, möglichst rasch und unbehelligt ihre Arbeit zu erledigen. Das war eine große Umstellung. In Zim­babwe gab es - vor allem an den kleineren Schulen - eine intensi­ve Kooperation von Lehrern, Schülern und Eltern. Und noch eine dritte Beobachtung: die rela­tiv große Nüchternheit und das vielfach geringe Engagement vieler Christen für die Kirche hier. Wer sich in Zimbabwe zur Kirche bekennt, investiert etwas in sein Glaubensleben. Viele - alte und junge - nehmen stunden­langen Anmarsch zum Gottes­dienst in Kauf. Sie nehmen äuße­re Formen ernst, singen enga­giert im Gottesdienst mit, brin­gen ihre Gebete freiformuliert ein. Da spürt man, daß sie ihren Alltag aus dem Glauben leben, sich als gläubige Gemeinschaft erleben. Für viele ist das Lesen der Bibel einfach selbstverständ­lich. Hier haben wir dann ge­spürt, daß all das etwas unterbelichtet ist.

Heinz Gattringer ist Mitar­beiter bei den Päpstlichen Missionswerken.

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