Vorigen Samstag bin ich in der Früh aufgewacht. Und plötzlich hatte ich die Idee: Ich mache bei der Abtreibungsdemonstration vor dem Allgemeinen Krankenhaus in St. Catharines mit. Bisher hatte ich an keinerlei Aktionen, weder gegen die Abtreibung noch für sonstige Anliegen teilgenommen. Das war für mich Zeitverschwendung.
Um 10 Uhr 45 schloß ich mich den Protestierenden an, hielt eine Tafel "Schluß mit der Abtreibung". Ein Bärtiger neben mir, Brian, machte mich darauf aufmerksam, daß sie jeden Samstag von 10 bis 11 Uhr hier seien - und nicht, wie ich dachte, von 11 bis 12 Uhr. "Macht nichts", sagte ich, "bleibe ich eben länger, wenn ihr jetzt nach Hause geht." Brian hatte vergessen mir zu sagen, daß die Demonstrationsbewilligung nur bis 11 Uhr reichte. Und so tat ich weiter, ohne zu wissen, daß ich gegen das Gesetz verstieß. Plötzlich blieben zwei Frauen vor mir stehen: eine ältere und eine jüngere, offensichtlich Mutter und Tochter.
"Schau, Marni, das ist mein ehemaliger Schuldirektor", rief die junge Dame. Beide schauten nun auf meine Tafel und dann auf mich. "Meinst du, wir sollten mit ihm über - du weißt schon wen - reden?", sagte sie dann. "Warum nicht?" - "Also, ich würde Sie gern wegen meiner Tochter, der jüngeren, nicht dieser ..."
"Sie ist wohl schwanger, nicht wahr?", frag´ich. "Ja, wir sind verzweifelt, alle drei - wir trauen uns nicht, es meinem Mann zu sagen - Sie kennen ihn ja ..."
" ... und da treffen Sie hier wohl Vorbereitungen?"
"Aber nein, wir besuchen meine Tante: Sie hat Krebs."
"Das ist schlimm. Ich werde für sie beten."
Ich wollte sie aber nicht fortlassen, ohne etwas über das Abtreibungsproblem der jüngeren Tochter gesagt zu haben. "Ja, das ist alles schöne Theorie, lieber Herr, aber ... ", gab sie zurück. "Oh nein, es gibt eine ganz konkrete Hilfe: Da ist ein eigenes Haus in Toronto, kostet kaum was. Und wenn das Kind geboren ist, wird es zur Adoption gegeben ... "
"Ja, aber mein Mann ... "
"Also den alten Dickschädel, den überlassen Sie mir. Ich werde mit ihm reden", bot ich mich an. Nachdem sie es mir erlaubt hatten, verstaute ich meine Tafel im Auto und fuhr gleich zur angegebenen Adresse. Der Ehemann hörte mir aufmerksam zu - überraschend ruhig zunächst, um dann eine Tirade loszulassen, von der mir nur eine wichtige Aussagen im Gedächtnis sind: " ... nur über meine Leiche wird das Kind adoptiert! Es wird hier in der Familie aufgezogen. Ich wollte ohnedies immer einen Buben!"
Er nahm die Tafel "Geschlossen", hängte sie vor die Tankstelle und holte eine Flasche Whisky heraus ...
("Vitality", Juli 1989)