Viele Christen lesen die Apostel- und so manche Heiligengeschichte wie Märchenbücher. Vielleicht gab es solche unmittelbare Gotteserfahrung früher einmal. Aber heute? Gottes Wirken ist jedoch zeitlos. Das zeigt die Erfahrung eines Schwerverbrechers ...
Ich wurde in eine Familie, in der niemals von Gott gesprochen wurde, hineingeboren. Mein "schönstes" Geburtstagsgeschenk war ... der Krieg. Mein Zuhause ist explodiert wie eine Granate. Ich blieb ganz allein zurück, verlassen. Mit sieben Jahren fand ich mich in den Pyrenäen wieder, in einer Pflegefamilie, in der ich mehr Fußtritte als Zärtlichkeit bekam.
Als mein leiblicher Vater am Ende des Krieges aus dem Konzentrationslager heimkommt, versucht er wieder einen Haushalt zu gründen. Aber ich schaffte es nicht, eine andere Frau als meine Mutter zu akzeptieren. Also laufe ich von daheim weg. Die Polizei nimmt mich fest, um mich wieder zuhause abzuliefern. Bis dahin aber steckt man mich einfach ins Gefängnis, in Marseille.
Na ja, ich kann sagen, daß ich da in einer guten Schule gewesen bin! Als ich wieder herauskam und man mich heimbringt, laufe ich wieder weg, diesmal, um all das praktisch umzusetzen, was ich im Gefängnis gelernt hatte. Und so beginnt mein Verbrecherleben ...
Eines Tages will ich mit ein paar Kumpeln in Laval eine Bank knacken. Da sehe ich am Gehsteig einen Mann, der ein eigenartiges schwarzes Kleid trägt. Ich überquere die Straße und sag zu ihm: "Bist du ein Manderl oder ein Weiber!?" Der Pfarrer schaut mir gerade in die Augen und gibt zur Antwort: "Ich bin ein Diener Gottes." Er hatte meine bösen Absichten erkannt und hinzugefügt: "Wenn Du einmal Zeit hast, schau bei mir vorbei." Er gab mir seine Adresse.
Er wird mir gute Ratschläge geben, aber ich befolge sie nie. Einige Jahre später werde ich eingesperrt. Mit der Hilfe von Freunden gelingt es mir zu entkommen. Einmal ziehe ich, mit falschen Papieren ausgerüstet, in Südamerika einen Drogenhandel auf. Zurück in Frankreich, werde ich wieder verhaftet. Insgesamt gelingt es mir, noch dreimal zu flüchten.
Zu guter Letzt werde ich zu 15 Jahren Kerker verurteilt. Wenn ich alle meine Strafen zusammenzähle, komme ich auf 21 Jahre. In Chateau-Thierry, einer Anstalt, die besonders für Narren meiner Spezies (mit einem allzu stark ausgeprägten Freiheitsdrang) eingerichtet ist, sagt mir der Direktor zur Begrüßung: "Hier wirst du spuren oder krepieren." Als Antwort habe ich sein Büro auf den Kopf gestellt! Ich werde lange Monate, lange Jahre an diesem Ort verbringen. Aber es gibt da einen, der mir nachgefolgt ist, mein guter Pfarrer. Einmal im Monat schreibt er mir einen Brief, spricht dabei nicht viel von Gott, nur ein Wort oder zwei. "Andre, denk an Gott!" oder "Andre, Gott lebt!" Einmal habe ich mich beschwert: "Ich gehe in meiner Zelle im Kreis. Ich sehe nichts als meine vier Wände." Darauf antwortet er mir: "Ich schicke Dir ein großes Büchel. Das kannst du während deiner ganzen Gefangenschaft lesen, aber auch wenn freikommst." Und er hat hinzugefügt: "Auch wenn du tot bist, kannst du es lesen." Also da hab´ ich mir gedacht: "Der Pfarrer hat nicht alle Tassen im Schrank."
Das "Büchel" kommt zu guter Letzt: Vier große, gebundene Evangelien. Der Aufseher, der sie mir bringt, nimmt sich in Acht. Ich war so bösartig, daß sich jeder vor mir gefürchtet hat! "Lies das, vielleicht macht es dich erträglicher", sagt er bei der Übergabe. "Hast du das Buch schon aufgemacht", fragt mich der Pfarrer später einmal. Natürlich nicht. "Um was geht es denn darin?", wollte ich wissen. "Von Gott handelt es", war die Antwort. "Da hat mir der Pfarrer seinen Herrgott in die Zelle geschmuggelt", dachte ich.
Eines Tages nach Jahren schlage ich das komische Buch, von dem man mir gesagt hatte, man könne es an jeder Stelle zu lesen beginnen, an irgendeiner Stelle auf. Ich gerate an die Hochzeit von Kana ... Da hab´ich mir gesagt: "Mein Pfarrer hat recht, das Büchel ist klass´!" Ich bin zum kleinen Wasserhahn in meinem Zimmer gegangen, habe ihn aufgedreht und gesagt: "He, Kumpel, laß Wein raus rinnen!" Aber es kam nur Wasser. Als ich mich beim Pfarrer beschwert habe, gab er zur Antwort: "Andre, du liest es falsch, es ist nicht ganz so gemeint." ...
An einem Tag - ich drehe in der Zelle meine Runden, da ich keinerlei Fluchtmöglichkeit habe - fällt mir wieder das Buch ein. Und da fordere ich diesen Jesus heraus. "Wenn es dich wirklich gibt, wenn du all das, was in diesem Buch steht, auch wirklich tust, na gut, dann komm mich besuchen. Ich schlage dir ein Rendez-vous vor: Komm heute um zwei Uhr nachts, dann haben wir Ruhe, um zu diskutieren. Und wenn du so stark bist, will ich nur eins von dir: öffne dieses Gitter, und ich hau´ab." Dieser Jesus, den ich zum Komplizen meiner Flucht machen wollte, wird mir antworten, und dich werde mit ihm fliehen - aber in meinen vier Wänden bleiben.
Und das kam so: In der Nacht vom 11. auf dem 12. Juni, es war im Jahr 1960, schlafe ich wie üblich mit Blick auf meine Gitterstäbe ein. Ich schlafe tief. In dieser Nacht rüttelt mich jemand aus meinem Schlaf auf. Ich springe aus dem Bett, bereit, den Eindringling niederzuschlagen. Aber da ist niemand. Da höre ich folgende Worte, die ganz tief in mir wiederhallen, ganz stark in meinem Inneren, wie in einem Tunnel: "Es ist zwei Uhr, Andre, wir haben ein Rendez-vous!" Ich mache einen Satz zur Tür meiner Zelle, der Aufseher kommt, und ich sage: "Warum pflanzst du mich?" Er antwortet: "Ich habe kein Wort gesagt." Da frage ich ihn: "Wie spät ist es?" - "Zwei Uhr." - "Was, zwei Uhr". - "Punkt zwei."
Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken, denn die Stimme meldet sich wieder, noch stärker in meinem Inneren: "Ich bin Dein Gott, der Gott aller Menschen." Ich balle die Faust, schreie: "Aber wie kannst du in meinen Ohren sprechen, wo ich dich nicht sehe, dich nicht kenne! Wer bist du? Laß mich in Ruh´, verschwind´- oder zeig dich!"
Und da sehe ich - dort bei den Gitterstäben, die ich mir immer gesprengt ausmalte, um freizukommen - ein herrliches Licht. Worte reichen nicht, um es zu beschreiben. Der Plafond ist weg, die Wände - es war der Himmel in meiner Zelle. Und in dem Licht ein Mann, den ich nicht kenne, niemals gesehen habe. Er zeigt mir seine durchbohrten Hände, seine durchbohrten Füße, seine geöffnete Seite. Und ich höre die Worte, durchdringend, da in meiner Zelle:
"Das ist auch für Dich".
Erst in diesem Augenblick fällt es wie Schuppen von meinen Augen. Die von 37 Jahren Sünden schweren Schuppen werden endlich abfallen, und ich sehe klar. Blitzartig begreife ich, daß ich ein Sünder bin und daß Er der Retter ist! Zum ersten Mal in meinem Leben beuge ich den Nacken und falle auf die Knie. Zum ersten Mal in meinem Leben weine ich, zum ersten Mal will mich jemand lieben!
Und von zwei bis sieben Uhr morgens, bis zur Öffnung der Zellen, in diesen fünf Stunden werde ich auf den Knien den Rückweg durch all das Böse, das ich getan hatte, antreten, damit es aus mir herausplatze wie ein überreifer Abszeß.
37 Jahre hindurch war ich der Nagel in Seinen Händen, in Seinen Füßen gewesen. Jeden Tag meines Lebens hatte ich die Lanze in die Hand genommen, um Ihn zu durchbohren ... Und da, vor Ihm, mit gesenktem Kopf habe ich um Verzeihung gebeten! Der Aufseher, der Direktor, sie haben fast durchgedreht: "Aha, er lenkt uns ab, er will abhauen!" Und sie hatten recht, ich hatte das Weite gesucht. Es war meine letzte Flucht. Ich bin mit Jesus durchgebrannt! Nach dieser Begegnung habe ich noch sechs Jahre abgesessen, eine Zeit, die Gott, dieser göttliche Künstler, genutzt hat, um aus dem Felsblock aus Haß, aus Atheismus, den kleinen, ja wirklich unbedeutenden Zeugen, der ich sein werde, zu machen ... Vor fünf Jahren bin ich wieder in dieses Gefängnis, um meine eingesperrten Brüder wiederzusehen, und Bande der Freundschaft zwischen denen drinnen und denen draußen zu knüpfen. Ich habe Briefkontakte vermittelt, und wer mein neuestes Buch liest, wird erkennen, welches Werk ich da mit Gott, Jesus und Maria machen durfte.
(Auszug aus einem Vortrag auf dem Kongreß "Apotres pour l´An 2000", 1988 in Versailles)