VISION 20005/1989
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Überbevölkert?

Artikel drucken (Richard und Ingeborg Sickinger)

“Überbevölkerung” : Wir haben dieses Thema zu unserem Schwerpunkt gemacht, weil viele heute davon überzeugt sind, daß ohne drastische Verringerung der Geburtenzahlen (meist mit schädlichen Verhütungsmethoden) uns demnächst der allgemeine Zusammenbruch bevorsteht. Eine nüchterne Betrachtung der Fakten relativiert solche Sorgen.
Weiters haben wir in dieser Nummer von “Vision 2000” versucht, die Attraktivität gelebten Christentums darzustellen:
Wir bringen ein Portrait von Bruce Ritter, einem Franziskanerpater, der ein riesiges Rettungswerk für Kinder, die in den amerikanischen Städten gestrandet sind, gestartet hat; das Zeugnis von Frauen, die sich auch unter widrigen Umständen für das Leben von Kindern eingesetzt haben; einen Bericht von einer Wallfahrt, bei der jugendliche Delinquenten wieder ins Leben zurückfinden. Schließlich sei noch auf den Beitrag des französischen Journalisten und Philosophen Marcel Clement hingewiesen:
Er gibt Anregungen, wie in unserer Gesellschaft heute “missioniert” werden kann.

“Es ist Zeit Alarm zu schlagen” - Udo Jürgens (siehe sein Lied weiter unten) artikuliert, was viele über die Bevölkerungsentwicklung denken. Es herrscht eine richtige Panikstimmung. Die logische Schlußfolgerung scheint zu sein: Geburtenkontrolle um jeden Preis. Daß solche Überlegungen durchaus angreifbar sind, wollen wir im folgenden aufzeigen.

Gehet hin und vermehret Euch!

Es ist Zeit, Alarm zu schlagen...
Hurra, die fünfte Milliarde ist voll!
Und die Bild-Zeitung jubelt:
“Ist das nicht toll?”
Neuer Geburtenweltrekord!
Lieb Deinen Nächsten und pflanze Dich fort!
Jetzt wird dem Hunger der Welt vorgebeugt,
jetzt wird die nächste Milliarde gezeugt!
Kondom tabu und Pille verpönt -
denn aus berufnem Munde erlönt:
Gehet hin und vermehret Euch!
Die 10. Milliarde ist vorprogrammiert,
so schnell ist die Menschheit noch nie explodiert.
Werft ja keinen Blick in die Zukunft zurück -
nach uns die Sintflut, vor uns das Glück!
Zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel:
Hat da nicht der Teufel die Hände im Spiel?
Denn der hat so viele Gesichter -
schöne Masken der Niedertracht,
Und der Schöpfer wird zum Vernichter,
wenn er so weitermacht!
(Udo Jürgens: Das blaue Album)

AIs Antwort auf die Bevölkerungsentwicklung ertönt seit langem schon der Ruf nach drastischen Maßnahmen: in China wird die Ein-Kind-Familie verordnet - zwangsweise Abtreibungen und die tausendfache Tötung von neugeborenen Mädchen sind die Folge; in vielen Ländern werden Wirtschaftshilfen von bevölkerungspolitischen Programmen
abhängig gemacht, wodurch Empfängnisverhütung, Sterilisation und Abtreibung massiv propagiert werden. Der Kirche wird der Vorwurf gemacht, durch die Ablehnung künstlicher Empfängnisregelungsmethoden mitschuld an dieser Entwicklung zu sein. Der Begriff “Bevölkerungsexplosion” ist in aller Munde und scheint jede Maßnahme zu rechtfertigen, um ein Ende dieses Wachstums herbeizuführen.
Wir wollten der Frage nachgehen: ist die Bevölkerungsentwicklung tatsächlich so bedrohlich, und wenn: wie reagieren wir darauf?

Ist die Erde überbevölkert?

Bereits der erste Blick zeigt: die weltweite Bevölkerungssituation ist sehr vielschichtig und überdies regional äußerst verschieden. In jedem Fall zeichnen sich zwei große Entwicklungsstränge ab:
* In den Entwicklungsländem ist zwar nicht die Zahl der Geburten pro Familie gestiegen, wohl aber läßt sich beobachten, daß - durch die bessere medizinische Versorgung
- die Säuglingssterblichkeit gesenkt und die Lebenserwartung insgesamt deutlich angehoben werden konnte; somit wächst die Bevölkerungszahl ständig.
Die weltweit größten Wachstumsraten liegen zwischen 2,5 Prozent (z.B. Ägypten, Bangladesh, Brasilien) und maximal 4 Prozent (Kenya), das heißt: nach momentanen Schätzungen wird sich die dortige Bevölkerung im ersten Fall in 35, im zweiten in nur 17 Jahren verdoppelt haben." (1) Das ist enorm.

Zunächst einmal: Rasch wachsende Bevölkerung ist nicht identisch mit dichter Besiedelung. Die Zahlen zeigen, daß verschiedene, allgemein als “übervölkert” geltende Länder wie Indien, Äthiopien oder Mexico eine - umgelegt auf die landwirtschaftlich nutzbare Fläche - ähnliche Bevölkerungsdichte aufweisen wie beispielsweise Österreich oder die Schweiz (vgl. Tabelle 1), in denen man nicht das Gefühl hat, aus allen Nähten zu platzen.

Tabelle 1: Zahl der Einwohner pro Hektar fruchtbaren Landes (1986) (1)

0,1-1,0 ...... Canada, Australien, Argentinien
1,1-3,0 ...... Brasilien, Uganda, USA, Sovietunion, Frankreich
3,1-5,0 ...... Mexiko, Athiopien, Indien, Italien, Österreich
5,1-10,0 ..... Peru, Großbritanien, BRD, Kenya, Indonesien
10,1-31,0 ... Belgien, Niederlande, Schweiz, Ägypten, China

Für diesen unterschiedlichen Eindruck spielen sicherlich die Probleme nicht bewältigter Verstädterung eine Rolle: so hat sich beispielsweise in Brasilien zwischen 1955 und 1985 der Anteil der städtischen Bevölkerung von 34 auf 71 Prozent erhöht. Zwar läßt sich der Zug in die Städte, in denen man ganz einfach mehr Lebenschancen erhofft, nicht nur in den Entwicklungsländern beobachten, doch sind für die armen Länder die damit zusammenhängenden Probleme viel schwieriger in den Griff zu bekommen,
wodurch sich die schlechte Versorgungslage und der Eindruck der Übervölkerung verstärkt.

* In einem ganz anderen Licht zeigt sich die Bevölkerungsentwicklung der Industrieländer:
hier sind seit Mitte der sechziger Jahre die Geburtenraten dramatisch gesunken. Die Zahl der Geburten liegt nun in keinem einzigen Industrieland mehr über 2,1 Kinder pro Frau (statistischer Wert, bei dem die Bevölkerung konstant bliebe). Somit nimmt die absolute Bevölkerungszahl in vielen Ländem bereits ab: die Einwohnerzahl der BRD zum Beispiel wird sich bis zum Jahr 2000 um 3 Millionen verringert haben (2). Ähnliches trifft auch für Österreich zu: nach momentanen Schätzungen muß man davon ausgehen, daß eine Frau hierzulande im Laufe ihres Lebens - im statistischen Durchschnitt - maximal 1,4 Kinder zur Welt bringen wird. Das als so kinderliebend geltende Italien weist die weltweit niedrigste Geburtenrate auf, andere Industrienationen folgen knapp darauf. Auch die meisten Länder Osteuropas fügen sich in dieses Bild. In den Vereinigten Staaten wird diese Entwicklung nur durch die starken Einwanderungen abgeschwächt. Für eine Umkehr dieser Entwicklung gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die geringsten Anzeichen; die sozialen, finanziellen und menschlichen Probleme einer überalternden Gesellschaft sind jetzt bereits spürbar und werden in Zukunft noch deutlich anwachsen.
Der Überblick über die Bevölkerungsentwicklung zeigt somit zweierlei: Bevölkerungswachstum auf der einen, Geburtenrückgang auf der anderen Seite. Nun ist es allerdings nicht so, als ob sich diese beiden Entwicklungen aufheben würden: denn nur rund 25 Prozent der Weltbevölkerung leben in Industrieländern mit oben skizzierter, sinkender Geburtenrate, während 75 Prozent in wirtschaftlich armen, aber kinderreichen Gebieten leben. Das heißt insgesamt: die Gesamtbevölkerungszahl ist am Steigen, und unsere Erde wird in den nächsten Jahrzehnten deutlich mehr Menschen beherbergen als heute. Dieses Faktum hört man sehr oft in den Medien. Wovon man allerdings viel weniger häufig
spricht: die Bevölkerungsentwicklung hat vor einiger Zeit eine bemerkenswerte Trendumkehr vollzogen.

Der Wendepunkt

Kurz zusammengefaßt: die in diesem Jahrhundert zu beobachtende Steigerung der Wachstumsrate (siehe Graphik 2, in der pdf-Datei auf Seite 6) ist vor einiger Zeit zum Stillstand gekommen und hat sogar schon zu sinken begonnen. Das bedeutet, die Bevölkerung wächst langsamer als bis vor kurzer Zeit angenommen wurde.
Konkret sieht das so aus: Der Höhepunkt der Wachtumsrate (= die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung während eines Jahres, ausgedrückt in Prozent) lag in der Mitte der sechziger Jahre, wo man weltweit 2 Prozent Bevölkerungswachstum verzeichnete.
Ab diesem Zeitpunkt ist ein Rückgang der Wachstumsraten zu beobachten: mittlerweile liegen sie bei jährlich rund 1,7 Prozent, und die Tendenz ist weiter fallend. Dieser Rückgang der Zuwachsraten zeigt sich auch daran, daß die Bevölkerungsprognosen von Mal zu Mal nach unten revidiert werden: Während in den sechziger Jahren noch angenommen wurde, die Bevölkerung werde bis zum Jahr 2050 auf 12 bis 15 Milliarden anwachsen, bleiben die neuesten Prognosen der Weltbank mittlerweile unter 10 Milliarden (2).
Diese auf den ersten Blick vielleicht geringfügig erscheinenden Prozentsatzverschiebungen haben somit große Auswirkungen:
zwar wird die absolute Weltbevölkerungszahl noch weiter steigen, aber der prognostizierte Verdoppelungszeitraum hat mittlerweile wieder ein merklich längeres Intervall erreicht (siehe Graphik 3, in der pdf-Datei auf Seite 6). Nachdem diese Trendumkehr vor mittlerweile über 20 Jahren eingesetzt und sich in dieser Zeit weiter verstärkt hat, kann man sogar annehmen, daß die Zahl der Menschen auf unserer Erde in der Mitte des nächsten Jahrhunderts deutlich unter den momentan prognostizierten 10 Milliarden bleiben wird.

Nun mag man einwenden: selbst eine Bevölkerung von 7 oder 8 Milliarden würde die Menschheit vor riesengroße Probleme und Belastungen stellen: in erster Linie drängen sich dabei zwei Fragenkomplexe auf: die Ernährungsfrage und die steigende Umweltbelastung (von einer “Über-Völkerung” im strengen Wortsinn kann eigentlich nicht gesprochen werden: Würde man nämlich alle derzeit lebenden Menschen im US-Bundesstaat Texas ansiedeln, so wäre allein dort so viel Raum, daß jeder über 150 Quadratmeter verfügen
könnte).
Der erste: Wird es möglich sein, so viele Menschen zu ernähren? Hier sind sich die Experten einig, daß die schlechte Versorgungslage, die in vielen Gegenden herrscht, schon heute kein Problem ausreichend vorhandener Lebensmittel ist. Und da die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion durchaus mit der Wachstumsrate der Bevölkerung
schritthalten kann (Graphik 4, in der pdf-Datei auf Seite 6), wird sich dieses Problem aller Voraussicht nach nicht weiter verschärfen. Die zweite Frage: Wieviel können wir unserer Umwelt zumuten, wenn die Produktion der Landwirtschaft und der Industrie, wenn Verkehr, Energieverbrauch und Konsum deutlich zunehmen? Es ist jedenfalls kaum vorstellbar, daß 10 Milliarden Menschen in ähnlichem Saus und Braus leben wie wir momentan. Das heißt, wir Menschen in den Industrieländem müssen zu einer verantwortungsbewußten Haltung gegenüber der Umwelt, den Bodenschätzen und den Energiequellen gelangen; zugleich gilt es, den Ländern der dritten Welt zu einer Entwicklung zu verhelfen, die die Umwelt weniger belastet.

Was können wir tun?

Diese auf uns zukommende Entwicklung und die damit zusammenhängen Probleme müssen also wirklich emst genommen werden. Allerdings gibt es - das zeigen die oben angeführten Prognosen - keinen Grund zur Panik, keinen Grund für gewaltsame oder drastische Maßnahmen ...
Wohl aber gilt es, für jede dieser beiden großen Entwicklungstrends: Bevölkerungswachstum und Geburtenrückgang eine jeweils eigene Antwort zu finden. Dabei sind alle
Zwangsmaßnahmen - sowohl die “Verordnung” von Kindern unter Rumäniens Ceausescu als auch die massive Verhütungspropaganda und der Druck zu Sterilisation und Abtreibung - eindeutig abzulehnen! Es muß eine Antwort gefunden werden, die der Würde des Menschen entspricht - denn es geht ja dabei nicht um Prozentsätze oder Zahlen,
sondern um einzelne Menschen in ihren konkreten Lebenszusammenhängen.

Literatur:

(1) National Geographic Nr. 174 vom Dezember 1988: eine anschauliche Darstellung anhand von konkreten Familien;
(2) Brockhaus Enzyklopädie; 19. Auflage 1987;
(3) Fischer-Weltalmanach (1988): Zahlen, Daten, Fakten und u.a. ein guter Abriß über die Welternährungslage;
(4) Demographic Yearbook (1986); hrsg. von UNO: umfangreichstes Material über Bevölkerungsentwicklungstrends, Lebenserwartung u.a.;
(5) Österreichisches Statistisches Handbuch (1988): Zahlen für Österreich, aber auch Übersicht über weltweite Situation;
(6) World Development Report (1989); hrsg. von der Weltbank: Prognosen der finanziellen, industriellen und bevölkerungsmäßigen Entwicklung;

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