Natürliche Empfängnisregelung - funktioniert das überhaupt in der Dritten Welt?
Zwingt die Bevölkerungsexplosion, die dort stattfindet, nicht zu drastischeren Maßnahmen?
Gespräch mit der Direktorin des "Tamil Nadu Family Development Center" zur Verbreitung natürlicher Methoden der Familienplanung in Indien
VISION: Sie treten in Indien für die Verbreitung der Methode natürlicher Familienplanung ein. Hat dieser Ansatz in Ihrem Land überhaupt eine Chance?
Catherine Bernard: Zwei der wichtigsten Organisationen, die in Richtung natürlicher Methoden arbeiten, sind das Tamil Nadu Zentrum für Familienentwicklung in Tiruchirapali, das ich leite, und ein ähnliches Zentrum in Madras. Derzeit dürften in rund 3.000 indischen Dörfern sowie in 300 indischen Städten etwa 200.000 Paare die Billings-Methode der natürlichen Familienplanung verwenden.
VISION: Wen können Sie mit diesem Angebot ansprechen?
Bernard: Wenn man es in der geeigneten Weise angeht und dabei die Traditionen und den kulturellen Hintergrund sowie die Lebensgewohnheiten der Menschen berücksichtigt, wird die natürliche Methode im allgemeinen sehr gut angenommen. Weder das Alter noch das Einkommen oder das Bildungsniveau stellen wirkliche Hindernisse dar. Die jüngeren Paare sehen darin eine ideale Methode, die Intervalle zwischen den Geburten ihrer Kinder zu bestimmen.
VISION: Und diese Methode erweist sich auch als wirksam?
Bernard: Wir haben in Indien die Erfahrung gemacht, daß man die Methode nicht nur als medizinischen Lösungsansatz verbreiten darf, sondern eben sehr stark auf die persönliche Situation des Paares eingehen muß. Dann ist der Erfolg beachtlich.
VISION: Kann man weniger gebildeten Menschen überhaupt die natürliche Empfängnisregelung beibringen?
Bernard: Die weniger gebildeten Menschen nehmen sie sogar leichter an. Übrigens sind 22% der Paare, die wir beraten haben, nicht lesekundig.
VISION: Sprechen Sie nur Christen an?
Bernard: Keineswegs. 52% unserer Paare sind Hindus und 4% Prozent Muslime.
VISION: Wie stark sind Methoden der Kontrazeption verbreitet?
Bernard: Das ist schwer zu sagen. Jedenfalls aber werden enorme Mittel in Verhütungsprogramme gesteckt - und leider nicht in die Wirtschaft investiert. Auch gibt es eine Politik, die die Großfarnilie benachteiligt, und eine massive Kampagne für die Sterilisation. Abtreibung wird - wie überall - leicht gemacht.
VISION: Gibt es so etwas wie Zwangssterilisation in Indien?
Bernard: Nein, das nicht. Die Sterilisation wird aber finanziell attraktiv gemacht. So gibt es rund 200 Rupien für die, die sich dieser Prozedur unterziehen. Aber es gibt auch Menschen, die aus purer Verzweiflung zu diesem Mittel greifen.
VISION: Zurück zu den Verhütungsmitteln. Sind sie weit verbreitet?
Bernard: Wir haben in den ersten fünf Jahren unserer Tätigkeit rund 45.000 Paare befragt, was sie vorher praktiziert hatten. 2.480 hatten verschiedene künstliche Verhütungsmittel angewendet, 450 die natürliche Methode und 2.280 hatten auf Abtreibung zurückgegriffen. Unter diesen waren 188 mit drei und 76 sogar mit mehr Abtreibungen!
VISION: Und wie bringen Sie lhre Botschaft unter die Leute?
Bernard: Natürliche Familienplanung kann man nicht ebenso an den Mann bringen wie etwa Verhütungsmittel. Sie ist Teil eines größeren Programms, das eine bestimmte Lebensgestaltung, eine Art des Umgangs der Ehepartner miteinander beinhaltet. Es handelt sich nicht um eine alternative Verhütungsmethode, sondern eine andere Art der
Lebensform.
VISION: Sie verfolgen also ein erzieherisches Anliegen, das Zeit erfordert. Viele meinen aber die Überbevölkerung erfordere rasche Veränderungen?
Bernard: Diese Vorstellung ist in den letzen Jahrzehnten von der Geburten-Kontroll-Bewegung kultiviert worden. Es entstand der Eindruck, der Welt würde es eines Tages an Ressourcen fehlen, um alle Menschen ausreichend zu versorgen. Also: lch spreche von Indien. Das kenne ich. Wir wären heute schon grundsätzlich imstande, eine doppelt so große Bevölkerung, wie sie Indien derzeit besitzt, zu ernähren. Das eigentliche Problem ist die Ungerechtigkeit, die unsere Gesellschaft kennzeichet.
VISION: Können Sie das illustrieren?
Bernard: Wir sind heute 750 Millionen Inder. 10% von ihnen gehören der oberen, 20 bis 25 % der mittleren Einkommensschicht an. Der Rest zählt zur armen Bevölkerung.
Nur jeder Zehnte aus dieser Gruppe führt ein Leben, das mit der Würde des Menschen vereinbar ist. Fast jeder zweite Inder hat also nicht genug, um seine minimalen
Grundbedürfnisse zu befriedigen. Und außerdem fragen Sie sich doch einmal: Warum gibt es überhaupt diesen gigantischen Wohlstandsunterschied
zwischen den Industrieländern und der Dritten Welt? Die ungerechte Verteilung ist das Hauptproblem.
VISION: Und nicht das Bevölkerungsproblem ....... ?
Bernard: Wer spricht am meisten von Bevölkerungskontrolle. Hauptsächlich wird davon in den um ihre Privilegien besorgten Industrieländern gesprochen. Sie und ihre Organisationen wie die Weltbank haben strategische Punkte in der Dritten Welt besetzt, um ihr Anliegen, die Bevölkerungskontrolle, voranzutreiben. Wem wirklich die Bevölkerung
der Dritten Welt am Herzen liegt, der würde nach Lösungen Ausschau halten, die der Würde des Menschen entsprechen.
VISION: Und warum sind Geburtenkontroll-Programme nicht menschenwürdig?
Bernard: Sie argumentieren nur mit Zahlen. Sie übersehen, daß es nicht eine abstrakte Größe "Bevölkerung" gibt, sondern nur Personen. Ihnen geht es um die Verringerung einer statistischen Zahl - und nicht um das Wohl von Menschen. Sonst dürfte doch dieses Hantieren an Statistiken auch nicht Menschen das Leben kosten, wie dies bei der Abtreibung der Fall ist. Und keiner spricht von den vielen zerbrochenen Ehen und Familien, die diese Programme produzieren.
VISION: Was verstehen Sie eigentlich unter menschenwürdig?
Bernard: Ausreichende Nahrung, entsprechende Kleidung, angemessene Bildung und Zeit zur Erholung sowie Möglichkeit zu geistiger Entwicklung. Ein Überfluß an diesen Gegebenheiten produziert ebenso eine menschenunwürdige Situation wie ihr Mangel. Jeder Mensch, jede Familie, jede Institution, jeder Staat trägt Verantwortung dafür,
daß weltweit diesbezüglich Gerechtigkeit hergestellt wird. Hier sind wir am Kern des Bevölkerungsproblems.
VISION: Was bedeutet das nun konkret?
Bernard: Jeder kann an der Lösung des eigentlichen Bevölkerungsproblems mitwirken, indem er in seinem Bereich für die Herstellung eines Gleichgewichts sorgt.
VISION: Gibt es für dieses Gleichgewicht einen Maßstab?
Bernard: Selbstverständlich. Das Evangelium. Jeder sollte einmal sein Leben unter diesem Blickwinkel betrachten.
Das Gespräch führten Alexa und Christof Gaspari. Siehe Furche 35/1988