Bruce Ritter war mein erster Interviewpartner beim Familienkongreß vor einem Jahr in Wien. Wer ihn bei einem Vortrag erlebt hat, weiß, daß er eine faszinierende Persönlichkeit ist. Aber was macht diese Faszination aus? Es ist nicht sprühender Witz und Charme oder ein temperamentvolles Auftreten des Mit-fünfzigers, sondern mehr die Güte und das Liebevolle, das hinter seinen Worten steht. Man sieht ihm an, wie sehr er schon für seine Schützlinge gekämpft und gelitten hat, wie sehr ihm jede und jeder einzelne ein großes Anliegen ist, und wie verzweifelt er schon gewesen sein muß, wenn er nicht helfen konnte. Seine “Schützlinge”, wer sind sie? Es sind Kinder und Jugendliche, die in die Fänge der Kinderprostitution und in das Geschäft mit der Kinderpornographie geraten sind und denen er seit 21 Jahren in eigens eingerichteten Häusern Zuflucht bietet.
Er seufzt: “Meist sind sie aus zerrütteten Familien, in denen Gewalt und Alkoholismus herrschen. Oder es sind Kinder, die von zu Hause ausreißen, weil sie von ihren Eltern sexuell mißbraucht worden sind. Andere werden von ihren geschiedenen Eltern einfach weggeschickt. Es kann auch sein, daß der Freund der Mutter deren Tochter mißbraucht. Die letzten Worte, die manche zu Hause hören, sind manchmal: “Verschwind‘, wir wollen dich nicht mehr." "Es sind also “weggeworfene” oder weggelaufene Kinder ohne Ausbildung”,
erzählt er. "Wohin sollen sie gehen, wovon sich ernähren? Sehr bald merken sie, daß sie nur mit ihrem Körper Geld verdienen können. Bevor sie verhungem, tun sie das dann auch. Also nicht aus Lust oder Spaß an Sex und Pornographie, sondern einfach aus der Notwendigkeit heraus, essen und irgendwo schlafen zu müssen." Immer wieder versichert Pater Bruce "they are good kids” - gute Kinder. Ihr einziges Verbrechen ist, daß sie frieren, Hunger haben und kein Zuhause und außerdem keinen Groschen Geld und keine
Ausbildung.”
Wie er zu dieser Aufgabe gekommen sei, frage ich ihn. Offen und ehrlich gibt er gleich zu, es sei eigentlich nie seine Absicht gewesen, sich um diese “street kids” zu kümmern. Im Grunde genommen hätte er sich auf ein bequemes, nicht allzu aufregendes Leben eingerichtet. 1956 in Rom zum Priester geweiht, hat er dort auch sein Doktorat aus mittelalterlicher Dogmengeschichte gemacht. Ein Fach, das, wie er meint, seinen Studenten am New Yorker Manhattan College, wo er in der Folge 5 Jahre unterrichtete, ein ewiges Rätsel blieb. Da er mit den Studenten gut umgehen konnte, wurde er in New York auch Collegeseelsorger. Daher gehörte es auch zu seinen “Pflichten”, am Sonntag für die Studenten die Messe zu lesen. Eine dieser Messen hat schließlich sein Leben total verändert: Er hatte gerade über Materialismus gepredigt. Eloquent hatte er den Studenten vorgehalten, sie sollten sich mehr engagieren, sich mehr um das Leben und das Werk der Kirche bemühen. Denn ohne solchen Einsatz würden sie schon vor ihrem 25. Lebensjahr
der Faszination von Ruhm, Geld und Macht unterliegen. (Predigten effekthaschend und provokant zu beenden, gehörte zu seinen intellektuellen Spielereien.)
Gerade als er sich zum Altar umdrehten wollte, spricht ihn einer der Studenten an: Was denn er, Bruce Ritter, in dieser Hinsicht täte, das wäre doch interessant zu wissen. Bruce sei wohl ein guter Prediger, aber er sollte doch selbst in die Praxis umsetzen, was er anderen predigt. Das war für den Studentenseelsorger wie ein Schlag ins Gesicht und die Wende in seinem Leben.
Zwei Wochen später hat er sich von Kardinal Cooke die Erlaubnis, seine Lehrtätigkeit aufzugeben, geholt. Von nun an wollte er das Leben der Armen teilen. In Lower East Side, wo in New York die Drogenszene dominiert, quartierte er sich in einem Haus ein, in dem 60 der 75 Apartements von Drogenabhängigen besetzt waren. Erst befürchteten diese, Bruce könnte ein als Priester verkleideter Drogenfahnder sein. Sobald sich aber herausstellte, daß er tatsächlich nur “ein verrückter Priester” war, begannen seine Nachbam, wie mir Bruce sagt “das ökonomische Gleichgewicht wieder herzustellen: Sie rauben mich einen Monat lang täglich aus. Sie lassen mir nur einige lateinische Bücher und mein franziskanisches Ordenskleid." Zunächst versuchte der Pater, mit den Armen des Viertels Kontakt aufzunehmen und sich mit den Drogensüchtigen in seiner Umgebung zu arrangieren. “Mit den Kindem bin ich erst durch Zufall in Berührung gekommen. Eines Nachts haben 4 Buben und 2 Mädchen, alle unter 16, bei mir an die Tür geklopft. Sie hatten von dem komischen Priester gehört und wollten über Nacht bleiben. Da ich nichts dagegen hatte, legten sie sich schlafen. Ich dachte, sie würden am nächsten Tag wieder gehen.
Aber sie wollten nicht, sondem ein Bub brachte noch seine übrigene Geschwister. Sie hatten, um zu überleben, gerade für einen Pornofilm herhalten müssen.” Nun erhofften sie sich Hilfe von Bruce. Der Pater versuchte noch am selben Tag irgendeine Institution zu finden, die sich um diese Kinder kümmern könnte. Er fand keine. Niemand fühlt sich zuständig: Die Kinder waren entweder zu alt oder zu jung, zu krank oder nicht krank genug. So behielt eben er sie. Statt der Armen, um die er sich ursprünglich kümmern wollte, hatte ihm Gott diese Kinder geschickt. Im Laufe der nächsten Tage wurden es immer mehr, die bei ihm Unterschlupf suchen... Bald merkte er, daß er Hilfe brauchte und wendete sich an seine ehemaligen Studenten um tatkräftige Unterstützung. Viele kamen und brachten Freunde mit.
Wie das dann mit seiner Arbeit weiterging, möchte ich wissen. Er überlegt kurz: “Ja, um zu etwas Geld zu kommen, bin ich dann eine Zeitlang Taxi gefahren. Eigentlich hatten wir anfangs eine illegale Kinderaufbewahrungsstätte.” Mittlerweile legalisiert, hat er aber nicht nur in New York ein Zentrum, das sich “Covenant House” nennt (Covenant= der Bund, den Gott mit den Menschen schloß): “10 Zentren in 10 verschiedenen Städten - in den USA aber auch in Kanada, Mexiko, Guatemala, Panama und Honduras.” Sind dort die Probleme die gleichen? “Nein. In Mittelamerika sind es eher Waisenkinder, deren Eltem von Guerillas oder von Regierungstruppen umgebracht worden sind. Diese - oft sehr kleinen - Kinder gehen dann betteln.”
Bei seinen Antworten, die er sicher schon hunderte Male gegeben hat, spürt man dennoch, daß er sich mit dem Elend nicht abgefunden hat, jedesmal neu unter den Schicksalen der Kinder leidet. Nun interessiert mich noch, wieviele Kinder jährlich bei ihm landen. “Wahrscheinlich werden wir nächstes Jahr wieder um die 25.000 Kinder und Jugendliche
aufnehmen, obwohl das nur ein Tropfen auf einen heißen Stein ist.” Und wie sieht es mit Geldproblemen aus? Er lächelt leicht: “Ja, die hab” ich immer. Ich bewege mich stets zwischen dem Bankrott und einer Laryngitis, letztere weil ich so viele Vorträge und Predigten halte, um zu Geld und Mitarbeiterm zu kommen.”
Ja, Mitarbeiter braucht er: “Ich lade Leute ein, mir ein Jahr ihres Lebens zu schenken, um mir mit meinen Kindem zu helfen. Dafür gebe ich ihnen Verpflegung und Unterkunft, 15 Dollar pro Woche und auch die Möglichkeit, zusammen zu beten, ungefähr 3 Stunden pro Tag, und einmal pro Woche zu fasten. Das sind unverzichtbare Bestandteile unseres
Lebens.100 Leute haben diese Einladung angenommen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes das Herz und die Seele von “Covenant House”. Sie Iassen unseren Straßenkinder die Gegenwart Gottes im Leben erfahren."
Es ist oft schwer, zu diesen Kindern von Gott zu sprechen, ja sie auch nur vom Selbstmord abzuhalten. Sie wissen, daß niemand zu Hause sie liebt, wissen oft auch, daß sie bald sterben werden, sei es, weil sie Aids haben oder einfach auch nur schon zu lange von der Prostitution gelebt haben. Was sagt er diesen? “Für mich bist Du wertvoll, ich mag dich”, denn das ist etwas, was sie verstehen. Und ich spüre, daß er diese Kinder wirklich liebt.
Was tut die Gesellschaft gegen diese Zustände? Traurig antwortet er: “Die Gesellschaft hat akzeptiert, daß man Sex kaufen kann. Sex wird mit Unterhaltung gleichgesetzt.” Er findet das schrecklich. “Die größte Dummheit ist zu glauben, daß es keinen Zusammenhang gibt zwischen dem, was wir sehen und lesen, und dem, was wir denken und tun. Was erwarten wir uns denn, wenn ein großer Teil der Bevölkerung diese groteske Literatur konsumiert?”
Wievielen dieser Kindern kann er helfen? Darauf Bruce: ”Zunächst einmal können die Kinder zu jeder Tages- oder Nachtzeit kommen. Wir stellen ihnen keine Fragen. Von Unterkunft, Kleidung, Schutz vor Zuhältern bis zur Ausbildung bekommen sie, was Sie gerade brauchen. Aber höchstens bei 20% erreichen wir, daß sie nach Hause zurückgehen können. Ungefähr einem Drittel der Kinder können wir helfen. Für viele ist es zu spät, denn wer zu lange auf der Straße gelebt hat, überlebt nicht lange.”
Bruce bekommt auch fast jede Woche Drohungen gegen sein Leben, denn den Zuhältem ist er ein Dorn im Auge. Aber ihm scheint das nicht viele Sorgen zu bereiten, obwohl er außerdem schwer krank ist. Als ich ihn frage, was er denn aus all diesen Jahren gelernt hat, seufzt er und überlegt: “Ich habe viel Schönes und viel Trauriges gelernt. Ich habe gesehen, wie mutig viele Kinder sind, wie wundervoll, wie verzweifelt sie versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, aber auch wie schnell eine zerfallende Familie die Kinder ruinieren kann. Die Werte haben sich enorm verändert. Als ich jung war, waren die Mütter von kleinen Kindem selbstverständlich zu Hause. Heute sind aber 60% der Mütter
von Kinder unter 3 Jahren ganztägig berufstätig. Kinder sind heute sehr viel alleingelassen und vielen Gefahren ausgesetzt.
Leider habe ich auch gelernt, daß viele in der Kirche sich an das, was heute modern ist, angepaßt haben. Aber es gibt dafür immer mehr Laien - vor allem Jugendliche -, die sich engagieren und anderen Vorbild sein können.” Bruce Ritter resigniert jedenfalls nicht, obwohl er Momente erlebt hat, in denen er aufgeben wollte, angeekelt von Gewalt und Tod.
Auf meine Frage, was wir selbst tun könnten, um zu helfen, sagt er eindringlich: "Schau, wo Du gebraucht wirst, übernimm Verantwortung, es ist Deine Verantwortung, schiebe sie nicht an andere ab. Sag nicht, wir sind alle verantwortlich. Nein, du bist verantwortlich. Und bildet Gruppen von Freunden, die miteinander arbeiten. Dann geht es leichter. Weder Regierung noch Kirche kann dir deine ganz persönliche Verantwortung abnehmen.”
Männer wie er, selbstlos, geradlinig und mit einer festverwurzelten Liebe zu Gott, der Kirche und seinen Mitmenschen verändern die Welt. Wieder einmal bin ich für eine Begegnung sehr dankbar.