Straffällig gewordene Jugendliche: Wie soll man ihnen wieder auf die Beine helfen? In Belgien hat man seit mehreren Jahren einen sensationellen Versuch gemacht:
Wallfahrten nach Santiago de Compostela
Niemals in ihrem Leben hatten Francis und Bruno bisher einen Erzieher umarmt. An diesem 27. Juni aber haben diese beiden 17jährigen belgischen Delinquenten ihren Begleiter Walter lang und ganz fest an sich gedrückt: und zwar nachdem sie die Jahrhunderte alten Stufen der Kathedrale von Santiago de Compostela hinaufgestiegen waren und ihren 20 Kilo schweren Rucksack - er hatte ihnen vier Monate lang schwer auf den Schultern gelastet - abgesetzt hatten. Sie waren angekommen. Sie waren an ihren Grenzen angelangt, jetzt nach 2.600 Kilometern - zu Fuß zurückgelegt: von Louvain nach Santiago. Jetzt waren sie frei.
In einigen Tagen, nachdem sie geschlafen und ihren Sieg gefeiert haben würden, würden sie nach Belgien mit ihrem ‘‘Compostela voller Stempeln heimkehren.
Sie würden dem Jugendrichter dieses Dokument, Träger vieler Spuren von Schweiß, von Zweifeln, von Freuden und Leiden, vorlegen.
Und dieser würde das wertvolle Papier in seinen Akten ablegen und sagen: “Sie sind frei." Francis und Bruno werden dann ihre Vereinbarung erfüllt haben. Sie werden ihren Eltern, ihren Erziehem, vor allem aber sich selbst bewiesen haben, daß sie das Vertrauen, das man ihnen entgegengebracht hatte, nicht mißbraucht hatten. Das wird wohl der Grund gewesen sein, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben vor Freude weinend in den Armen von Walter gelegen sind, während die schweren Glocken der Kathedrale zum Angelus läuteten.
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Oikoten ist eine belgische Vereinigung, die seit 1982 ein äußerst originelles und für Europa neues Projekt zur Wiedereingliederung Strafentlassener betreibt. Damals hat ein Bewährungshelfer, der sich zu Fuß nach Santiago auf den Weg gemacht hat, zwei junge Delinquenten mitgenommen. Vier Monate später sind sie angekommen. Die beiden Jungen waren total verändert. Im Jahr darauf machen sich 6 Burschen mit zwei Erziehern auf den Weg. Zwei müssen nach drei Monaten Marsch heimgeschickt werden. Die 4 anderen kommen an. Einer von ihnen, Geert, erklärt in Compostela: “Sicher, ich habe früher viele Dummheiten gemacht, habe gestohlen. Aber eben so sicher ist: Ich mach´s
nicht mehr.”
Insgesamt haben bisher 70 jugendliche Gesetzesbrecher diese Alternative zur Erziehungsanstalt gewählt. 80 Prozent von ihnen haben den Wallfahrtsort erreicht, und 60 Prozent von ihnen sind erfolgreich resozialisiert worden. “Ich habe natürlich immer noch Probleme”, gesteht einer von ihnen, der 24jährige Marnix, der bei der ersten Expedition dabei war, “aber ich löse sie anders als früher.”
Aus “Familie chretienne” vom 13.7.1989