VISION 20001/1994
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Mitten in der schönen neuen Welt

Artikel drucken Wir erleben, was Huxley vorhersah (Gudrun Födermayr)

Was an der Washington-Universität geschehen ist, war kein Ausrutscher extremer Materialisten. Es folgt der Logik des neuzeitlichen Denkens. Aldous Huxley hat diese Logik schon vor 60 Jahren durchschaut und eine Entwicklung vorhergesehen, die sich heute - weit früher als Huxley annahm - vor unseren Augen verwirklicht.

Ein grauer gedrungener Bau, nur 34 Stockwerke hoch. Über dem Haupteingang die Worte: Brut- und Normzentrale Berlin-Dahlem (...) "Bokanowskyverfahren", wiederholte der Direktor, und die Studenten unterstrichen das Wort in ihrem Heftchen. Ein Ei - ein Embryo - ein erwachsener Mensch: das Natürliche. Ein bokanowskysiertes Ei dagegen knospt und sproßt und teilt sich. Acht bis 96 Knospen - und jede Knospe entwickelt sich zu einem vollausgebildeten Embryo, jeder Embryo zu einem vollentwickelten Menschen. 96 Menschenleben entstehen zu lassen, wo früher nur eines entstand: Fortschritt.

Huxleys Vision erreicht?

Aldous Huxley schrieb eine Anti-Utopie "Schöne neue Welt" und legte das Geschehen des Romans in eine ferne Zukunft. 1993 scheinen wir diese Zukunft erreicht zu haben: Huxleys Vision ist nicht mehr nur Phantasie, sondern sie erschreckt - wie in einem Spiegelkabinett, durch Bilder, deren Proportionen zwar nicht stimmen, denen aber Wirkliches zugrundeliegt.
1984 delektierte man sich daran, festzustellen, daß George Orwells literarische Schreckensvision sich nicht erfüllt habe. Das
arrogante Frohlocken war Dummheit - die Gefahr hat sich lediglich einer kosmetischen Operation unterzogen: Nicht der „große Bruder“ bedroht uns, sondern eine (Un)Geisteshaltung, der gemäß alles Vergnügen, das ganze Leben ein Spiel ist - „Wir amüsieren uns zu Tode“
(Neil Postman).
Huxleys Welt stellt die perfekte Wohlstandsgesellschaft dar, deren Realisierung erst durch einen tiefen Wandel im Bewußtsein der Menschen möglich wurde, jenen, „das Schwergewicht von Wahrheit und Schönheit auf Bequemlichkeit und Glück zu verlegen.“
Die Stabilität der Gesellschaft wird dadurch gesichert, daß sich ihre Mitglieder „kaum anders benehmen können als
sie sollen." Das Mittel dazu ist eine gezielte Hierarchisierung: Im „Bokanowskyverfahren“ werden vier verschiedene Menschen
„produziert"; je niedriger die Klasse, desto mehr identische Wesen gibt es.
„Das Bokanowskyverfahren ist eine der Hauptstützen für eine stabile Gesellschaft.“
... "96 völlig identische Geschwister bedienen 96 völlig identische Maschinen!“
Zehn Weltaufsichtsräte - sie werden kurz „WAR“ (!) genannt, regieren die genormte Gesellschaft: „Die beste Gesellschaftsordnung‘‘,
sagte Mustafa Mannesmann, „nimmt sich den Eisberg zum Muster: acht Neuntel unter der Wasserlinie, ein Neuntel darüber.“
In der „Zivilisation“ werden die Menschen nicht mehr geboren; sie enstehen durch künstliche Befruchtung unter dem Mikroskop,
reifen in Flaschen heran und werden zu gegebener Zeit „entkorkt“. Durch gezielte äußere Eingriffe geschieht die Normung:
„Je niedriger die Kaste“, sagte Päppler, „desto weniger Sauerstoff."
Wichtigste Maxime im zwischenmenschlichen Bereich:
„Jeder ist seines Nächsten Eigentum!“ Gefühle sind verboten, Mann und Frau sind einander einzig Objekt sexueller Befriedigung
und als Objekt selbstverständlich beliebig oft austauschbar.
Es besteht sogar die Pflicht dazu: „Es ist schrecklich ungehörig, so lange mit ein und demselben Mann zu gehen.“
Was bei Huxley die verpflichtende Lebensform ist, wird in der heutigen Wirklichkeit immer prägender: die Single-Gesellschaft.
Der Trend zum Single- Dasein steigt mit der Tendenz, sich dem Mutter- und Vatersein zu verweigern - wobei man wohl eine physische und eine psychische Verweigerung unterscheiden muß.
Die mutter- und vaterlose Gesellschaft provoziert den Typus des Peter Pan. Peter Pan, der nicht erwachsen werden will und kann, unfähig zu vertrauen und zu verantworten, sein Alleingelassensein durch ein Festklammern an der Kindheit kompensierend.
In Huxleys „schöne(r) neue(r) Welt“ gibt es nur Jugend und Schönheit, keine Krankheiten, alles keimfrei, steril und genormt, keine Leidenschaft, keine Tränen, keine Liebe.
„Sollte sich durch einen unglücklichen Zufall wirklich einmal etwas Unangenehmes ereignen, nun denn, dann gibt es Soma,
um sich von der Wirklichkeit zu beurlauben. Immer ist Soma zur Hand, um Ärger zu besänftigen, einen mit seinem Feind zu versöhnen, Geduld und Langmut zu verleihen. - Früher konnte man das alles nur durch große Willensanstrengung und nach jahrelanger Charakterbildung erreichen. Heute schluckt man zwei, drei Halbegrammtabletten, und damit gut! Jeder kann heutzutage tugendhaft sein. Man kann mindestens sein halbes Ethos in einem Fläschchen bei sich tragen. Christentum ohne Tränen - das ist Soma."

Logik des Todes

Die Bewohner der „Zivilisation“ leben konsequent die Logik des Todes: Die Frauen tragen Patronengürtel mit Verhütungsmitteln,
die Abtreibungsklinik „Sanssouci“ ist nachts farbig bestrahlt, in der Moribundenklinik werden die „Dutzendlinge“ einer niedrigen Kaste neben Sterbenden zu sexuellen Spielen angehalten und mit Schokoladentorte gefüttert, um in ihnen keine Ehrfurcht vor dem Tod entstehen zu lassen, die sie „asozial" machen könnte. Scham, Erröten gibt es in der „Zivilisation* nur mehr, wenn Wörter wie
„Eltern“, „geboren werden“, „Mutter“, usw. ... dennoch fallen. Die Sprache ist das Tor, der Kontrolle Eingang in das Denken zu
verschaffen. Huxley hat diesen Vorgang mit „Schöne neue Welt" perfekt gestaltet.

Man braucht nur die Meldungen wie jene über das Klon-Experiment zu verfolgen, um Huxleys ohnmächtigen, bitteren Hohn zu begreifen, er ihn leitmotivisch immer wieder Shakespeare zitieren läßt: "O schöne neue Welt, auf der solch´ Menschen leben!"

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