VISION 20001/1994
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Wir waren am Ende unserer Kraft

Artikel drucken Erfahrungen mit einem drogensüchtigen Sohn (Susanne Morosoli)

Wir haben drei erwachsene Söhne. Der mittlere - nennen wir ihn Michael - verließ mit 22 Jahren die Familie und trampte ein Jahr lang durch Südamerika. Dann eröffnete er in Peru ein Künstlercafe. Seinen Briefen nach zu urteilen führte er ein interessantes Leben ...

Mitte August 1987 kam Michael eines Nachts verzweifelt nach Hause: „Ich bin drogensüchtig. Alles ist aus.“ Wir waren zuliefst erschüttert, konnten aber die ganze Tragweite dieser Situation noch nicht ermessen. Voller Hoffnung glaubten wir, unseren Sohn mit
unserer Liebe und allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln retten zu können. Wir fühlten uns stark genug, den Entzug zu Hause
durchzuführen. Nach einer Woche schien alles überstanden. Wir machten mit Michael Ferien in den Bergen. Er freute sich über jede Wanderung, über die Natur ...
Drei Monate später ging es ihm wieder schlecht. Ein Arzt riet zum Methadon-Programm, also zum medizinisch kontrollierten Einsatz einer Ersatzdroge. Noch einmal setzten wir alles in unseren Kräften stehende ein. Im Sommer bekam Michael eine Arbeitsstelle. Es war ein hoffnungsvoller Neubeginn ...
Anfang 1989 kam Michael manchmal unregelmäßig heim, oft spät am Abend. Schließlich gab er seine Stelle auf. Eines Nachts kam er nicht mehr nach Hause. Mein Mann und ich waren wie gelähmt vor Angst, Zorn und Ohnmacht. Wir ahnten: Die Droge ist stärker als unsere Liebe. Die Zeit zwischen seinen unregelmäßigen Besuchen zu Hause war geprägt von verzweifeltem Warten und der bangen Frage: Wann und in welcher Verfassung wird er kommen?
Ich hielt mir Michaels Leben vor Augen. Immer schon hatte er besonders viel Liebe gebraucht. Hatte ich ihm genügend Liebe gegeben? Ich fühlte mich schuldig. Diese Last überschattete die an sich schon trostlose Situation. Erst nach und nach verwandelte sich das Schuldgefühl in einen Schmerz, zu dem ich Ja sagen konnte.
Wenn Michael lange fortgeblieben war, brachte er mir manchmal eine Blume mit, einmal eine kleine Azalee. Obwohl ich ahnte, daß er die Blumen gestohlen hatte, rührte mich diese Geste so, daß ich nicht nachfragte.
Ich pflegte die Blumen, als wären sie seine Seele. Die kleine Azalee blühte immer wieder. Jedesmal, wenn er heimkam, zeigte ich sie ihm.
In Nächten voller Angst, Verzweiflung und Verlassenheit reifte eine neue Beziehung zwischen meinem Mann und mir.
Wir begannen, jeden Abend für Michael gemeinsam zu beten.

Sein Wille war zu schwach

Eines Tages hielt ich die Ungewißheit nicht mehr aus. Mit einer Freundin machte ich mich auf die Suche nach Michael. Ich fand ihn auf dem Platzspitz, elend und zerlumpt. Ich konnte ihn nur in die Arme schließen und an mich drücken. Ich spürte, wie sehr er darunter litt, daß ich ihn so vorgefunden hatte.
Er wollte nach Hause. Wir bereiteten uns mit ihm auf einen Entzug in der Klinik vor. Er hatte zwar den Willen, von der Droge loszukommen, doch dieser Wille war nicht stark genug. Enttäuscht und schuldbewußt kam er wieder nach Hause. Wir machten keine Vorwürfe. Seine Not wurde unsere Not. Nach Jahren des Ringens mußten wir einsehen, daß nur noch ein Wunder unseren Sohn retten konnte.

Es kam die Zeit, in der wir Geld und Schmuck verstecken mußten. Auf irgendeine Art mußte sich Michael ja den nächsten Schuß beschaffen. Er kam und ging, wann er wollte. Gespräche und all unsere Liebe nützten nichts. Die Droge hatte ihn im Griff. Auch wir waren am Ende unserer Kräfte ...
Dann kam ein Anruf: Michael sei wegen Beschaffungskriminalität in Untersuchungshaft. Wir waren eigentlich erleichtert. Wenigstens für diese Zeit wußten wir, wo unser Sohn war. Er hatte ein Dach über dem Kopf, ein Bett und geregelte Mahlzeiten. So konnten wir sogar erholsame Ferien verbringen. Danach besuchten wir ihn und schöpften neue Hoffnung.
Weihnachten 1990 war Michael wieder zu Hause. Er nahm eine Stelle als Bauarbeiter an. Alles schien sich wieder einzurenken - bis er eines Tages nicht mehr zur Arbeit ging und nachts ausblieb. Die folgende Entziehungskur mißlang.
Wieder waren wir bereit, unser Haus für ihn offen zu halten. Doch unsere Kräfte waren völlig aufgezehrt. So schlugen wir Michael vor, in eine Wohngemeinschaft für Methadonabhängige umzuziehen ...
14 Tage später rief morgens die Polizei an. Michael war mit dem Auto schwer verunglückt. Erst nach drei Tagen wußten wir, daß er am Leben bleiben würde. Als wir ihn das erste Mal besuchen durften, sagte er: „Warum muß ich immer so viel leiden?”
In dieser Frage schien uns die ganze Not süchtiger Menschen enthalten zu sein: das ständige Bemühen, von der Droge loszukommen,
und letztlich die Niederlage.
Wir alle ließen ihn in dieser Situation erneut unsere Liebe spüren und schöpften mit ihm zusammen neue Hoffnung.
Doch nach und nach wurde uns bewußt, daß wir es trotz liebender Zuwendung nie schaffen würden, die Sucht zu besiegen.
Wir mußten uns endlich auch in der Öffentlichkeit dazu bekennen:
Wir haben einen drogensüchtigen Sohn. Dieser Schritt traf uns alle: meinen Mannn‚ in leitender Stellung eines angesehenen Unternehmens, mich, die ich in der Pfarreiarbeit tätig bin, aber auch die beiden anderen Söhne.
Das offene Bekenntnis wirkte befreiend. Uns selbst ging es besser, und es taten sich überraschenderweise neue Möglichkeiten
auf, die Sucht zu besiegen: Uns wurde plötzlich bewußt, wie viele an die Loslösung Michaels von der Droge glaubten und ihn diese Zuversicht auch spüren ließen.

Langsam die Wende

Langsam zeichnete sich in allem Leiden eine Wende zum Positiven ab, in unserer Familie und um uns herum. Wir Eltern fanden
Ausdauer in der Geduld. Die beiden anderen Söhne versuchten, nochmals an ihren Bruder zu glauben. Menschen in ähnlichen
Situationen öffneten sich uns gegenüber und schöpften durch unser Vertrauen neuen Mut. Von manchen Menschen durfte Michael ganz konkrete Hilfe erfahren, viele haben ihn und uns  durch das Gebet getragen. Ein Neubeginn wurde möglich.
Seit zwei Jahren ist unser Sohn drogenfrei, braucht kein Methadon mehr. Im vergangenen Jahr hat er seine Freundin. die all die Jahre zu ihm gestanden hatte, geheiratet. Inzwischen ist ein Töchterchen angekommen.
Im Rückblick auf die Jahre sehe ich einen roten Faden: Gott gab uns in allem Dunkel immer wieder die Kraft, uns ihm anzuvertrauen
und unserem Kind nach all den Abstürzen stets Stütze zu sein, mit ihm zu leiden und ihm immer wieder neu Vertrauen
zu schenken.
In allem Auf und Ab durften wir erahnen, wie sehr Gott uns liebt und uns besonders in Prüfungen nahe ist.

Ein Zeugnis am „Familyfest 1993“ der Fokolare-Bewegung, Auszug aus „Neue Stadt“ 7/8, 1993

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