Welches sind Ihre markantesten Erinnerungen in 20 Jahren Glaubenskongregation und Pontifikat dieses Papstes?
Kardinal Joseph Ratzinger: Die markantesten Erinnerungen sind jene an die Begegnungen mit dem Papst bei den großen Reisen, dann das große Drama der Befreiungstheologie, bei der wir den richtigen Weg gesucht haben, dann das ökumenische Engagement des Heiligen Vaters, diese Suche nach einer großen Öffnung der Kirche, die dennoch nicht zum Identitätsverlust führt.
Vielleicht sind die ganz normalen Begegnungen mit dem Heiligen Vater die schönste Erfahrung, denn dort findet Herzenskommunikation statt und wir sehen die gemeinsame Intention, dem Herrn zu dienen. Auch sehen wir, wie der Herr uns hilft, Begleitung auf unserem Weg zu finden; denn aus mir selbst heraus vermag ich nichts, und das ist besonders wichtig: keine persönlichen Entscheidungen zu treffen, außer im Rahmen einer großen Zusammenarbeit. Dies immer mit dem Papst auf dem Weg der Gemeinschaft, denn er hat einen großen Blick auf die Zukunft. Er bestätigt mich und leitet mich auf meinem Weg.
Wie ist denn der Papst? Wie würden Sie ihn beschreiben, um ihn auch uns etwas vertrauter zu machen?
Ratzinger: Der Papst ist vor allem sehr gütig. Er ist ein Mensch mit einem offenen Herzen, er hat Humor. Man kann sich mit ihm auch fröhlich und gelöst unterhalten. Wir schweben nicht immer über dem Boden, sondern wir leben hier auf Erden. Diese Güte des Papstes überzeugt mich immer wieder von neuem, wobei noch seine hohe Bildung zu erwähnen ist und seine Normalität und daß er eben mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität steht.
Sie beschreiben Johannes Paul II. in einer sehr liebevollen Weise und benutzen dafür wunderschöne Worte. Könnten Sie sich denn jetzt auch selbst beschreiben? Wie sehen Sie sich selbst?
Ratzinger: Eine Selbstbeschreibung ist nicht möglich. Man kann sich schwerlich selbst beurteilen. Ich kann nur sagen, daß ich aus einer sehr einfachen Familie stamme, und daher fühle ich mich eher als einfacher Mann denn als Kardinal. In Deutschland bin ich in einem kleinen Dorf von Bauern und Handwerkern zuhause und dort fühle ich mich in meiner Umgebung. Ich versuche aber auch, am Arbeitsplatz so zu sein. Aber ich möchte kein Urteil über mich selbst wagen. Gerne denke ich an meinen Vater und meine Mutter zurück, die sehr gütig waren. Zu einer solchen Güte gehört für mich selbstverständlich auch, “Nein" sagen zu können, denn eine Güte, die alles gewähren läßt, tut dem anderen nicht gut. Manchmal kann die Form der Güte auch darin bestehen, nein zu sagen und so auch das Wagnis des Widerspruchs einzugehen. Das sind meine Kriterien und mein Ursprung, das Weitere müssen andere sagen.
Wie kann man heutzutage Autorität in Glaubensfragen geltend machen?
Ratzinger: Gewiß ist das eine schwierige Aufgabe, nicht zuletzt, weil es fast keinen Autoritätsbegriff mehr gibt. Es scheint ja schon mit der Freiheit aller, das zu tun, was sie wollen, unvereinbar zu sein, daß eine Autorität überhaupt etwas entscheidet. Auch ist es schwierig, weil sich viele allgemeine Tendenzen unserer Zeit gegen den katholischen Glauben richten.
Man versucht, die Weltanschauung dahingehend zu vereinfachen, daß Christus eben nicht mehr der wahre Gottessohn ist. Allenfalls gesteht man ihm noch die Dimension eines Mythos zu oder man betrachtet ihn als großartigen Menschen. Aber Gott könne das Opfer Christi nicht angenommen haben, da es sich dann um einen grausamen Gott handle und so weiter...
Es gibt also viele Auffassungen, die sich gegen das Christentum richten und viele Glaubenswahrheiten, die tatsächlich neu überdacht werden müssen, um sie für die Menschen von heute in zeitgemäße Worte zu kleiden.
Ich muß aber auch sagen, daß viele Menschen dankbar sind, daß die katholische Kirche weiterhin ein Fels in der Brandung ist, die den katholischen Glauben zum Ausdruck bringt und ein Fundament liefert, auf dem man leben und auch sterben kann, und das ist für mich doch tröstend.
Interview der Nachrichtenagentur “zenit.org" anläßlich des 20-Jahre-Jubiläums von Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom (www.zenit.org vom 27.11.01)