Siebzig Jahre lang blieb es Lehrmeinung von Therapeuten und Psychiatern, daß Homosexualität psychologisch gesehen einen ungelösten Geschlechts-Identitätskonflikt darstellt. Bis 1973 war deshalb Homosexualität als emotionale Störung in der einflußreichen Diagnoseliste der Amerikanischen Psychiater-Vereinigung (APA) zu finden.
Als sich das änderte, waren nicht neue Forschungsergebnisse der Grund, sondern ein verändertes gesellschaftliches Klima.
1970 – im Zuge der Antikriegsdemonstrationen in den USA – begannen kleine, gut organisierte Homosexuellengruppen, mit skandierenden Protestmärschen und durch die Taktik der öffentlichen Störung auf sich aufmerksam zu machen.
Der Zeitzeuge Socarides schreibt: „Homosexuelle schlossen sich zusammen, nicht um Hilfe... von der Ärzteschaft zu verlangen oder öffentliche Anerkennung dessen, was ihr Zustand ist – so wie andere Menschen mit einer anderen Form der Neurose oder einem emotionalen Problem – oder einfach, um gegen gesetzliche Ungerechtigkeiten zu protestieren, sondern um die ,Normalität‘ der Homosexualität zu verkünden und jede Opposition gegen diese Auffassung zu attackieren. Diejenigen, die diese Meinung hatten, waren eine sehr kleine, aber lautstarke Minderheit unter den Homosexuellen verglichen mit denen, die entweder mehr Hilfe wollten oder stumm blieben.“
„Sprecher für die Homosexuellenbewegung behaupteten, daß Homosexualität keine Abweichung sei, homosexuell Empfindende seien lediglich eine andere Art Menschen, die einen gutzuheißenden Lebensstil lebten, der außerdem die perfekte Antwort auf die Bevölkerungsexplosion sei.“
Eine kleine homosexuelle Splittergruppe hatte den „systematischen Versuch zur Störung der Jahresversammlungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) geplant.“
Man rechtfertigte die Methode der „Einflußnahme“ damit, daß die APA „Psychiatrie als gesellschaftliche Institution“ repräsentiere und damit Teil des gesellschaftlichen „Unterdrückungsapparates“ sei.
Als Irving Bieber, Psychoanalytiker und Experte auf dem Gebiet der Erforschung der Homosexualität, sein Referat auf der APA-Jahreskonferenz 1970 hielt, wurde er von einem Aktivisten, der sich den Zugang zu der Versammlung erschlichen hatte, abrupt unterbrochen: „(Biebers) Versuch, seine Position zu erklären… wurde mit höhnischem Lachen aufgenommen… Einer der Protestierer belegte ihn mit Schimpfworten. ,Ich habe ihr Buch gelesen, Dr. Bieber, und wenn darin so über Schwarze gesprochen würde wie über Homosexuelle, dann würde man Sie vierteilen, und das hätten Sie verdient’.“
Für die folgende Jahrestagung forderten die Homosexuellenaktivisten eine Podiumsdiskussion – nicht über Homosexualität, sondern eine, die von Homosexuellen selbst veranstaltet würde. Sonst würde man die ganze Jahrestagung durch gewaltsame Störungen sprengen und nicht nur ein einzelnes Referat. „Ein mit Wut vorgetragener Egalitarismus… zwang Psychiater, die Frage der Pathologie der Homosexualität mit Homosexuellen selbst zu diskutieren. Das Ergebnis war nicht eine Entscheidung, die auf der Annäherung an wissenschaftliche Wahrheit, wie sie mit der Vernunft erfaßbar ist, basierte, sondern auf den Forderungen eines ideologischen Klimas dieser Zeit.“
Doch „trotz des Übereinkommens, es Homosexuellen zu gestatten, ihre eigene Podiumsdiskussion auf der Tagung 1971 durchzuführen, glaubten Schwulenaktivisten in Washington, dem psychiatrischen Berufsstand einen weiteren Schlag versetzen zu müssen… Ein zu glatter Übergang… hätte der Bewegung ihre wichtigste Waffe genommen – ihre Drohung, die öffentliche Ordnung zu stören. (Man) wandte sich an das Kollektiv einer ‘Schwulen Befreiungsfront‘ in Washington, um eine Demonstration für Mai 1971 zu planen. Zusammen mit dem Kollektiv entwickelte man eine umfangreiche Strategie der Störungen und überließ dabei selbst winzigste logistische Details nicht dem Zufall.“
Mit gefälschten Papieren brachen Aktivisten u.a. in eine der hochrangigsten Preisverleihungs-Versammlungen der APA-Tagung 1971 ein und besetzten das Mikrofon. Einer der Agitatoren verkündete: „Die Psychiatrie ist die Verkörperung des Feindes. Die Psychiatrie hat einen gnadenlosen Vernichtungskrieg gegen uns geführt. Nehmen Sie das ruhig als Kriegserklärung.“
Ton und Inhalt der Tagung hatten sich mittlerweile so entwickelt, daß niemand mehr widersprach. Diejenigen, die an der Diagnose „Homosexualität als emotionale Störung“ festhielten, blieben still oder erschienen nicht mehr zu den Diskussionen. „Der Prozeß, öffentlich gezeigte Wut in eine bestimmte politische Forderung zu kanalisieren, hatte begonnen.“
Kurze Zeit danach setzten die Aktivisten eine Anhörung vor dem Ausschuß durch, der für die Überprüfung der Diagnoseliste verantwortlich war. Keines der Mitglieder des Ausschusses war Experte auf dem Gebiet der Homosexualität. Einer der Berater (Robert Spitzer) war der Auffassung, daß Homosexualität vielleicht doch keine psychische Störung und vor allem nicht „so schlimm“ sei.
Überzeugende wissenschaftliche Forschung für eine Änderung in der Diagnoseliste wurde nicht vorgestellt. Was normalerweise nach jahrelangen Debatten entschieden wird, geschah jetzt im Handumdrehen: 1973 beschloß der Ausschuß, daß Homosexualität aus der Liste psychischer Störungen zu streichen sei. (Heute weiß man mehr darüber, daß die Aktivisten nicht nur Sympathisanten, sondern Komplizen sogar innerhalb der APA-Spitze hatten).
Als 1978 eine Umfrage unter amerikanischen Psychiatern – allesamt Mitglieder der APA – durchgeführt wurde, sagten 68 Prozent derjenigen, die den Fragebogen zurückschickten, daß sie Homosexualität nach wie vor für eine emotionale Störung hielten. „Viele Psychiater sahen die Entscheidung [von 1973] in naiver Weise als ’einfache’ Streichung einer Diagnose, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen.
In Wirklichkeit schuf es Ungerechtigkeiten für den homosexuell Empfindenden, denn es war ein Unrecht an der Wahrheit und verhinderte damit, daß Homosexuelle psychoanalytische Hilfe suchen und finden konnten.“
Die Autorin ist Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin sowie Leiterin des „Deutschen Instituts für Jugend und Gesellschaft“ in Reichelsheim, ihr Beitrag ein Auszug aus „Homosexualität verstehen“, Sonderdruck des Instituts, siehe: www.dijg.de. Die Zitate stammen aus: C. Socarides „Sexual Politics and Scientific Logic, in J. of Psychohistory 1992, R. Bayer: Homosexuality and American Psychiatry: The Politics of Diagnosis, New York 1981