Papst Johannes Paul II. hat das neue Jahrtausend unter das Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit gestellt. Je weiter wir darin voranschreiten, umso mehr erkennen wir in dem rund um uns wachsenden Chaos, daß die einzige Hoffnung des Menschen darin besteht, sich der barmherzigen Liebe Gottes, die Er uns seit jeher anbietet, rückhaltlos anzuvertrauen. Aber wie? Dazu Gedanken im folgenden Beitrag.
Einmal sagte mir in tiefster seelischer Erschütterung eine junge Frau, die das Unglück hatte, sich in viel Schuld verstrickt zu haben: „Ich möchte wieder rein werden wie ein Kind!“
Wo sich solche Sehnsucht durch die Nacht und die Qual der Seele durchbricht, da hat Gottes Erbarmen schon von Ferne gerufen: „Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee“ (Jes 1,18). Der Weg zu diesem Ostermorgen ist für die Seele die innere Umkehr. Wir sagen zu diesem Weg auch Buße. Doch wenn heute von „Buße“ die Rede ist, empfinden wir es als unangenehm, als lebensfeindlich. „Soll ich denn griesgrämig durchs Leben gehen, den Kopf hängen lassen, dauernd beten und fasten? Nein Danke, nichts für mich!“ In der Tat: Das ist nicht die Buße, wie Gott sie will.
„Das ist es, was Gott will: eure Heiligung“ (1 Thess 3,4).
Buße hat – von der deutschen Wortbedeutung her – einen schönen und Mut machenden Klang. Buße kommt von „bessern“. Buße tun heißt darum zuallererst: Ich will mich in meiner ganzen Armseligkeit vor Gott erkennen. Dann: Ich darf, ich kann mich bessern. Ich kann getanes Unrecht auch gutmachen. Ich kann das negative Gefälle meiner Seele – den Egoismus und die Selbstgerechtigkeit – durch geduldige und beharrliche Selbstüberwindung zur Liebe hin zur Kippe bringen.
Und wenn der schlechtere Mensch in mir gesiegt hat: Ich darf wieder aufstehen und neu anfangen. Ja, ich kann den besseren, den schöneren Menschen aus mir herausarbeiten wie der Bildhauer die Idee im Stein. Ich kann heil und heilig werden! Ich kann sogar hemmenden Einfluß nehmen auf den Lauf des Bösen, das von mir ausgegangen ist. Und wenn es heißt, das ganze Leben des Christen sei Buße, dann meint das: Ich darf in der frohen und dankbaren Gesinnung des heimgekehrten Sohnes als Kind beim Vater sein und Ihm dienen.
Allein in dieser frohen, demütigen und dankbaren Hinwendung zum Besseren gibt es für uns innere Wiedergeburt, innere Auferstehung, geistiges Wachstum, Fortschritt zum Höheren. Ohne diese tägliche Übung in der Umkehr vermag die Seele auf einmal gar nicht mehr aufzustehen. Ihre Flügel werden schlaff und wie gebunden. Dann überläßt sie sich der Trägheit, und ihre Unzufriedenheit wird immer größer. Darum sind so viele Menschen depressiv und träge, ohne wahre Lebensfreude und Auferstehungshoffnung, oft pessimistisch und habsüchtig. Sie haben sich nicht gereinigt und befreit in echter Buße. Sie haben ihre Flügel nicht ausgebreitet zu Gott hin wie ein Vogel dem Wind und der Sonne, wenn er im Bach gebadet hat.
Könnte ich noch einmal anfangen...
Viele Menschen werden - wenn sie die Lebensmitte überschritten haben oder sich im Ruhestand befinden - von der Einsicht in ihr Leben, in ihre Vergangenheit überrascht, manchmal gequält und beinahe erdrückt. Es wird ihnen bewußt, was sie in ihrem Leben alles falsch gemacht haben, wie Selbstgerechtigkeit, Egoismus und eingefleischte destruktive Verhaltensmuster Beziehungen kaputt gemacht oder verunmöglicht haben. Sie erkennen, daß sie es mit dem Glauben an Jesus Christus zu leicht genommen haben. Sie sehen in ihren Kindern und Enkelkindern fortwirken, was sie in der Erziehung vernachlässigt oder falsch gemacht haben, und sie ernten bittere Früchte. Priester erkennen ihre Untreue und ihren Mangel an Eifer. „Mein Leben ist eine einzige Katastrophe“, hört man dann bisweilen sagen. „Könnte ich doch noch einmal anfangen, ganz neu anfangen, aber jetzt ist es zu spät...“ Bisweilen endet solche Einsicht und solches Leben überaus tragisch, was doch nicht sein dürfte!
Es gibt aber auch eine gefährliche „Selbsterkenntnis“, und davon sind nicht selten alte Menschen betroffen. Sie meinen, alles falsch gemacht zu haben und lassen sich nach unten ziehen. Das ist eine Traurigkeit, die nicht gottgewollt ist, sondern eine „weltliche Traurigkeit, die zum Tod führt“, wie Paulus im 2. Korintherbrief sagt. Dieser Traurigkeit kann man nicht genug entgegenwirken, weil sie ganz und gar unchristlich ist.
Wenn unser Weg hier auf Erden zu Ende geht, wenn wir sterben, werden wir mit allem, was wir gelebt oder nicht gelebt haben, vor Christus, dem Herrlichen und Liebenden, erscheinen. „Vor ihm bleibt kein Geschöpf verborgen, sondern alles liegt nackt und bloß vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft schulden“ (Hebr 4,13). Im Licht Seines Heiligseins und Seiner Liebe werden wir erkennen, wer wir sind: Ob wir wirklich an Ihn geglaubt haben und an Sein Erbarmen, ob wir die Kirche – das heißt Christus selbst - geliebt haben und für sie eingestanden sind, ob wir die Lüge verabscheut haben, ob wir die Armen unseres Herrn geliebt und unser Geld und unsere Zeit mit ihnen geteilt haben, ob wir wahrhaftig waren im Reden und Tun, ob wir die Keuschheit geliebt haben, die Ehrlichkeit, die Reinheit, die Schönheit, die Wahrheit…
Das, was nach dieser Begegnung im Tode mit dem Herrn folgt, nennt die Kirche Läuterung (Purgatorium, Fegefeuer). Hier muß, ja darf das Versäumte noch nachgeholt werden: Die Buße, die Umkehr, die der Mensch hätte tun müssen, die er aber nicht oder nur unvollkommen getan hat. Im Feuer der unendlichen Liebe Gottes – dem ganz unvorstellbaren Feuer – soll diese letzte Läuterung und Vollendung geschehen, ehe die Seele in das ewige Licht der Liebe Gottes eingehen kann. (Es sei denn, der Mensch habe sich gegen den Herrn entschieden, ein unausdenkbar schrecklicher Gedanke!).
Und diese Läuterung wird von allen Heiligen und Mystikern, die sich dazu äußern, einhellig als ein unbeschreiblich schmerzvoller Prozeß beschrieben, ist doch der Herr, „dein Gott, ein verzehrendes Feuer“, unendliche Liebe – unendliches Feuer der Liebe (Hebr 12,29).
Das Leichtnehmen von Sünde und Schuld und die Vernachlässigung der Buße (ohne den ganz entschiedenen Vorsatz, sich zu bessern), ist in der Tat eine lebensgefährliche Sache für den geistigen und ewigen Menschen in uns. Die Seelsorgeerfahrung zeichnet in dieser Hinsicht ein überaus trostloses Bild. Wie leicht wird heute die Sünde genommen, wie leicht die Schuld, wie schnell wird – wenn überhaupt - gebeichtet und vergessen. „Was dabei oft ganz und gar fehlt, das sind die festen Vorsätze... Das sind Beichten mit nur geringem oder gar keinem Wert“ (Hl. Don Bosco).
Alles, was wir im Leben tun, sprechen, denken, unterlassen, alles hat Folgen. Folgen, die bis in die Ewigkeit hineinreichen können, wie Segen und Fluch. „Was der Mensch sät, wird er ernten“ (Gal 6,7) – schon hier in diesem Leben und auch im ewigen. Dazu findet sich in den mystischen Schriften der seligen Anna Katharina Emmerich ein bemerkenswerter Text, der es verdiente, in allen seinen Facetten vertieft und betrachtet zu werden.
Sie sagt einmal: „Alles, was der Mensch denkt, spricht, tut, hat in sich etwas Lebendiges, das fortwirkt zum Guten oder zum Bösen. Wer Böses getan, muß eilen, seine Schuld durch Reue und Bekenntnis im Sakrament der Buße zu tilgen, sonst kann er die Folgen des Bösen in ihrer ganzen Entwicklung nur schwer oder gar nicht mehr verhindern. Ich habe dies bei Krankheiten und Leiden mancher Menschen und bei dem Unsegen mancher Orte oft körperlich gefühlt, und es ist mir immer gezeigt worden, daß ungebüßte und unversöhnte Schuld eine unberechenbare Nachwirkung hat. Ich sah die Strafen mancher Sünden bis an den späten Nachkommen wie als etwas Natürlich-Notwendiges, ebenso wie die Wirkung des Fluches, der auf ungerechtem Gut liegt, oder den unwillkürlichen Abscheu vor Orten, wo große Verbrechen geschehen sind. Ich sehe dies als so natürlich und notwendig, wie der Segen segnet und das Heilige heiligt.“ (In: Geheimnisse des Alten und des Neuen Bundes, Christiana Verlag, 8260 Stein am Rhein)
An diesem Punkt kommt uns Gottes Erbarmen entgegen in dem, was die Kirche als „Ablaß“ bezeichnet. Der Ablaß ist, in seiner Tiefe gesehen und verstanden, ein unverdientes Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit, vor allem auch am Barmherzigkeitssonntag. Das wird heute in der Kirche wieder neu entdeckt. Wo der Mensch sich fühlt wie vor einem Berg, der über ihn fallen will, weil er die Fehler, die Sünden, die Schuld seines Lebens einsieht und das, was fortwirkt in den Menschen, da streckt der göttliche Erbarmer Jesus Christus ihm Seine Hand entgegen und bietet ihm Sein dreifaches eine Heil an:
- Im Sakrament der Buße streckt der Herr ihm die Hand zur Vergebung aller seiner Sünden und Schuld entgegen – ergreife sie!
- Im Sakrament der heiligen Eucharistie schenkt der Herr ihm Sein eigenes herrliches und neuschaffendes Leben – empfange es!
- Im Geschenk des Ablasses gewährt ihm Christus den vollkommenen oder teilweisen Erlaß dessen, was er in diesem Leben an Wiedergutmachung, an Sühne und Buße versäumt hat und was sein persönlicher Anteil war – laß dich beschenken, weil Gott so gütig ist (vgl Mt 20,1-16).
Der Ablaß bildet darum ein wesentliches Element in der Gabe des Barmherzigkeitssonntages. „Jene Seele, die beichtet und die heilige Kommunion empfängt, erhält den vollkommenen Nachlaß der Schuld und der Strafen“, sagt Christus zur Hl. Faustyna. Diese herrliche Verheißung wird von vielen Theologen mit der Gnade der hl. Taufe gleich gesehen: Eine wirkliche Neuschöpfung des inneren Menschen im Heiligen Geist, wenn er diese Gnade würdig empfängt (vgl 2 Kor 5,17).
Das also ist der Ort, wo „ich wieder rein werden kann wie ein Kind“. Größeres kann dem Menschen gar nicht geschenkt werden. Nur Christus weiß, wie heilig Gott ist und wie schwer es ist, ins ewige Leben zu gelangen, wenn wir nicht demütig nach den Früchten am Baum des Lebens greifen (vgl Off 21,27). Denn: „Der Ausgangspunkt, um den Ablaß zu verstehen, ist die Überfülle des Erbarmens Gottes, die am Kreuz Christi offenkundig wurde. Der gekreuzigte Jesus ist der große ‚Ablaß‘.“ (Johannes Paul II.)
Der Autor ist Pfarrer emeritus in Bad Ragaz.